Das Fleisch der Welt

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Exakte sinnliche Phantasie

Merleau-Ponty steht in einer phänomenologischen Tradition, die bei Husserl angefangen hat und war unter anderem von Heidegger und Sartre beeinflusst. Doch schon lange davor hatte Goethe den Versuch unternommen, eine Form der Naturwissenschaft zu entwickeln, die in vielen Punkten große Ähnlichkeit mit Merleau-Ponty aufweist. Merleau-Ponty erwähnt Goethe in der Phänomenologie der Wahrnehmung nur ein einziges Mal, es scheint aber wahrscheinlich, dass er Goethes naturwissenschaftliche Ausführungen kannte. Goethes Form der Naturwissenschaft kann man sicherlich als eine Phänomenologie der Natur bezeichnen. Der von Gernot Böhme herausgegebenen Band Phänomenologie der Natur behandelt Goethes naturwissenschaftlichen Ansätze ausführlich ohne jedoch ausdrücklich auf Merleau-Ponty zu verweisen.

Goethe hatte Newtons Farbenlehre gelesen. Dieser hatte versucht, das Phänomen der Farben auf eine hinter diesem Phänomen liegende Realität zurückzuführen. Er ließ Licht durch ein Prisma fallen und wollte anhand des Brechungswinkels der jeweiligen Farbe ein mathematische Modell zur Beschreibung der Farben entwickeln. Letztendlich glaubte er, dass sich Lichtteilchen unterschiedlicher Farben mit unterschiedlicher Geschwindigkeit durch Glas bewegen und diese Eigenschaft dem Farbempfinden zu Grunde liege. Newtons Theorie war nicht erfolgreich und wurde später durch die Theorie abgelöst, nach der das Farbempfinden von der Wellenlänge des Lichtes abhängig ist. Wichtig daran ist an dieser Stelle nur die Ähnlichkeit der Methode: beide Theorien beschreiben Farbe als Eigenschaft, die auf hinter der erfahrbaren Realität liegenden, in Zahlen ausdrückbaren Verhältnissen basiert. Goethe hielt dieses Vorgehen für absurd. „Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfasste wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.“ (Goethe, 1998, S.315) Die Geschwindigkeit eines Teilchens konnte für ihn nicht sein eigenes Farbempfinden erklären, ebenso wenig, wie dies das Bemessen der Wellenlänge gekonnt hätte, so nützlich dies für die Optik auch sein mag. Goethe wollte das Phänomen unmittelbar begreifen und verstehen. Dazu musste er es in möglichst ursprünglicher Form beobachten. Am besten an Hand eines Urphänomens, wie Goethe es nannte, also eines Phänomens, das in seiner klarsten direkten Form in der Natur zu beobachten wäre. Goethes Beobachten war aber kein Betrachten von außen, sondern ein achtsames Sehen, dass unsere Aufmerksamkeit auf das beobachtete Phänomen lenkt und uns mit diesem verbindet. Auf diese Weise können wir die Qualität z.B. der Farbe direkt erfahren (Bortoft, 1996, S.42) Um dem eigentlichen Phänomen noch näher zu kommen, entwickelte Goethe die Methode der exakten sinnlichen Phantasie. Nachdem er eine tatsächliche Beobachtung gemacht hatte, versuchte er diese in seiner eigenen Vorstellung exakt zu rekonstruieren, dabei aber nicht über das Phänomen nachzudenken. Ziel dabei ist es, nichts auszulassen und nichts hinzuzufügen. So sollte das Denken sich der Qualität der Wahrnehmung und die Wahrnehmung sich der Qualität des Denkens annähern. (Bortoft, 1996, S.42) Durch dieses Vorgehen verschwimmen die Grenzen zwischen Geist und Materie, zwischen Subjekt und Objekt und ermöglichen direkte Erkenntnis, die in der Welt und ihren Phänomenen selbst begründet ist. Dieser Punkt lässt sich an der folgenden Graphik veranschaulichen:

giraffe

Abbildung 3

Zuerst sehen wir in dieser Abbildung nur einen Haufen schwarzer Flecken in einem Kreis, dann plötzlich wie von selbst, erkennen wir den Kopf und Hals einer Giraffe. Offensichtlich kann sich an unserer Wahrnehmung nichts geändert haben, die Punkte haben sich nicht geändert und unser Blick hat sich nicht geändert. Trotzdem erkennen wir die Giraffe – das Bild bekommt für uns Bedeutung. Diese Bedeutung ist jedoch nicht Teil des Bildes. Jemand, der noch nie eine Giraffe gesehen hat, würde auch keine Giraffe in diesem Bild sehen. Die Giraffe ist aber auch nicht ein alleiniges Produkt unserer Erinnerung oder Assoziation. Wäre das der Fall, dann könnten wir alles mögliche assoziieren: Dreck in einer Schale, eine bemalte Weihnachtskugel und vieles mehr. Wir sehen aber alle dieselbe Giraffe. Die Bedeutung ergibt sich vielmehr aus der kognitiven Organisation der Flecken in einer Weise, die den Kontext des zuvor Erfahrenen einschließt. Gleichzeitig erschließt erst der Akt unserer bewussten Wahrnehmung die Bedeutung Giraffe in einem Raum zwischen uns und dem Bild. Die bewusste Wahrnehmung ist somit eine Art der Kommunikation zwischen zwei gleichberechtigten Polen. Weder die Vorstellung eines Subjekts, dass ein Objekt sieht, noch die eines Objekts, dass sich einem Subjekt zeigt, können den Erkenntnisgewinn des Wahrnehmens erklären. Erst die Interaktion vor dem Hintergrund einer bestimmten Situation, erschließt Bedeutung. Merleau-Ponty schreibt dazu: „Wahrnehmen ist nicht das Erleben einer Mannigfaltigkeit von Impressionen, die zu ihrer Ergänzung geeignete Erinnerungen nach sich ziehen, sondern die Erfahrung des Entspringens eines immanenten Sinnes aus einer Konstellation von Gegebenheiten, ohne den überhaupt ein Verweis auf Erinnerungen nicht möglich wäre.“ (Merleau-Ponty, 1966, S. 42).

Goethe wiederum hat sich das Wissen um die Möglichkeit dieser Erkenntnisgewinnung in seinen naturwissenschaftlichen Versuchen zu Nutze gemacht. Bei den Untersuchungen über die Morphologie der Pflanzen stellte er Blattreihen zusammen. Dazu löst er die Blätter einer Pflanze ab und ordnet sie in einer Reihe an, wie sie von oben nach unten am Stil einer Pflanze wachsen. Dabei ergeben sich Bilder wie das folgende am Beispiel des Mauerlattich:

goetheblaetter
Abbildung 4

Wenn wir Goethes Erkenntnisweg nachvollziehen wollen, dann müssen wir eine der Blattreihen ausführlich beobachten, sie also sehen, ohne sie dabei zu analysieren. Der nächste Schritt wäre es, das Bild durch unsere exakte sinnliche Phantasie in Gedanken zu rekonstruieren und zwar so genau wie möglich ohne etwas hinzuzufügen oder zu erklären. Ähnlich wie das Bild der Giraffe springt uns dann ein Verständnis für das dynamische Formprinzip dieser Pflanze an. Die Form jedes Blattes erhält für uns Bedeutung innerhalb des Zusammenhanges des Pflanzenwachstums.