Naturwissenschaft und Mythos (I)

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Vorwort

Ich habe vor, in der nächsten Zeit auch ältere Texte hier zu veröffentlichen. Einer davon ist meine Magisterarbeit über Naturwissenschaft und Mythos. Ich werde sie in mehreren Beiträgen hier veröffentlichen. Dieser Beitrag enthält die Einleitung, Situierung genannt und das Inhaltsverzeichnis. Wer gleich die ganze Arbeit lesen möchte kann sie auch unter folgendem Link als pdf herunterladen: Naturwissenschaft und Mythos

Naturwissenschaft und Mythos

„Listen, Bill, tell me…Do the Indians think, really think that Coyote made the world? I mean, do they really think so? Do you really think so?”
“Why of course I do….Why not?…Anyway…that’s what the old people always said…only they don’t all tell the same story. Here is one way I heard it: it seems like there was nothing everywhere but a kind of fog. Fog and water mixed, they say, no land anywhere, and this here Silver Fox….”
“You mean Coyote?”
“No, no I mean Silver Fox. Coyote comes later. You’ll see, but right now, somewhere in the fog, they say, Silver Fox was wandering and feeling lonely. Tsikuellaaduwi maandza tsikualaasa. He was feeling lonely, the Silver Fox. I wish I would meet someone, he said to himself, the Silver Fox did. He was walking along in the fog. He met Coyote. ‘I thought I was going to meet someone,’ he said. The Coyote looked at him, but he didn’t say anything. ‘Where are you traveling?’ says Fox. ‘But where are YOU traveling? Why do you travel like that?’ ‘Because I am worried.’ ‘I also am wandering,’ said Coyote, ‘I also am worrying and traveling.’ ‘I thought I would meet someone, I thought I would meet someone. Let’s you and I travel together. It’s better for two people to be traveling together, that’s what they always say….’”
“Wait a minute, Bill….Who said that?”
“The Fox said that. I don’t know who he meant when he said: that’s what they always say. It’s funny, isn’t it? How could he talk about other people since there had never been anybody before? I don’t know…I wonder about that sometimes, myself. I have asked some of the old people and they say: That’s what I have been wondering myself, but that’s the way we have always heard it told. And then you hear the Paiutes tell it different! And our people down the river, they also tell it a little bit different from us. Doc, maybe the whole thing just never happened….And maybe it did happen but everybody tells it different. People often do that, you know….”
“Well, go on with the story. You said that Fox had met Coyote….”
“Oh, yah…Well, this Coyote he says: ‘What are we going to do now?’ ‘What do you think?’ says Fox. ‘I don’t know,’ says Coyote. ‘Well then,’ says Fox, ‘I’ll tell you: LET’S MAKE THE WORLD.’ ‘And how are we going to do that?’ ‘WE WILL SING,’ says the Fox.
Jaíme de Angulo (Angulo, 1990, S.68ff)

Inhaltsverzeichnis

Situierung
I. Naturwissenschaft und Mythos
I.1. Mythos
I.1.1. Mythos und Mythenforschung
I.1.1.1. Urangst
I.1.1.2. Teleologie, Evolution, Geschichte
I.1.1.3. Mythisches versus aufgeklärtes Denken?

I.1.2. Die Allegorie als Methode von Kunst und Mythos
I.1.3. Definitionen
I.1.4. Geschichten
I.2. Hübner: Die Wahrheit des Mythos
I.3. Naturwissenschaft
I.3.1. Methodologie der Naturwissenschaft
I.3.2. Naturwissenschaftsgeschichte
I.4. Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung
II. Welten
II.1. Einleitung
II.2. Aktor-Netzwerk-Theorien
II.2.1. Bruno Latour – Welten artikulieren
II.2.2. Donna Haraway – situierte Geschichten erzählen
II.2.3. Begriffsklärung
II.3. Perspektiven
Bibliographie
Abbildungsverzeichnis

 

Situierung

Ein Blick in die Kataloge der Bibliotheken bestätigt die Vermutung. Das Suchwort Mythos fördert Unmengen an Einträgen zu Tage. Nicht die, nach denen ich suche, und doch: je tiefer ich mich durch die unzähligen Einträge arbeite, desto stärker bemerke ich, dass die angezeigten Schriften sehr wohl etwas mit meinem Thema zu tun haben:

Mythos Pygmalion, Mythos Rhein, Mythos Krebsvorsorge, Mythos Casanova, Mythos Baum, Mythos Jugend, Mythos Humboldt, Mythos Großstadt, Mythos Dampf, Mythos Weimar, Mythos Multimedia, Mythos Gegengesellschaft, Mythos Ganzheit, Mythos Antifaschismus, Mythos Schönheit, Mythos Entwicklungshilfe, Mythos Ödipus, Mythos Gestapo, Mythos Internet, Mythos Alter, Mythos Schweiz, Mythos Pandora, Mythos Reichsautobahn, Mythos Musik, Mythos Information, Mythos Sicherheit, Mythos Olympia, Mythos Neanderthal, Mythos Wildnis, Mythos ´68, Mythos Staat…

Mythos, so scheint es, ist überall. Ihn findet man nicht nur in der Antike oder bei den „primitiven, archaischen“ Naturvölkern, sondern wo immer die kritischen Augen der Autoren hinblicken. Aber was meinen die Autoren der oben gelisteten Werke damit, wenn sie ihr eigentliches Thema als Mythos titulieren? Sicherlich wollen sie nicht einen Mythos erzählen, sonst beinhalteten die Titel Artikel und Präposition, z.B.: Der Mythos von Pygmalion. Das wäre eindeutig. Jeder wüsste, was er von dem Buch zu erwarten hätte. Die Vermutung drängt sich auf, dass in diesen Titeln eine Metabotschaft zum Ausdruck gebracht werden soll: das Wort Mythos wirkt wie ein Schlaglicht, das die Unwahrheit, vielleicht sogar einen Verblendungszusammenhang des behandelten Themas aufdeckt. Der kritische, aufgeklärte Geist hat sich ein Thema vorgenommen, es durchleuchtet und kann nun behaupten: „Seht da, was ihr über dieses Thema zu wissen glaubtet, entspricht nicht der Wahrheit bzw. der Realität, und wenn ihr doch weiter daran festhaltet, seid ihr einem Mythos aufgesessen.“ Ein Titel der Art Mythos X könnte aber auch etwas ganz anderes ausdrücken wollen: eine Begeisterung für ein Thema oder zumindest den Wunsch zu verstehen, warum ein Thema Begeisterung, Verehrung und Hingabe zu erzeugen vermag. Hier zeigt das Wort Mythos Bewunderung für den Gegenstand an, der über die normale Wertschätzung hinausgeht, ja dem Gegenstand wird offenbar etwas Gewaltiges, Übermächtiges, Magisches bestätigt.

Das Thema Mythos beschäftigt und es hilft Polaritäten entstehen zu lassen. Denn das allgemeine Verständnis, von einigen wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, geht davon aus, dass Mythos und Wissenschaft sich diametral entgegenstehen, sowie Glaube und Wissen, Verblendung und Aufklärung, archaische Naturvölker und Zivilisierte, Emotionalität und Rationalität. Die meisten der oben genannten Werke werden mit diesen Unterscheidungen arbeiten, um zu Urteilen innerhalb ihrer Themenzusammenhänge zu gelangen. Nur einige wenige werden die Pole gegeneinander aufwiegen, den einen Pol mit dem anderen zu retten versuchen (in der Form: Mythos ist ebenfalls eine Form von Rationalität oder Naturwissenschaft braucht die Emotionalität und Bildlichkeit des Mythos), oder sie miteinander zu vermitteln versuchen. Noch weniger werden versuchen, sich von den Konnotationen, die die Begriffe mit sich führen zu lösen und nach anderen Bedeutungsebenen zu suchen. So wirft Heinz Reinwald in seinem Buch Mythos und Methode folgende Fragen auf:

„Was aber, wenn man sich nicht auf die allgemein empfundene Selbstverständlichkeit bei der Deutung des Mythos als etwas Vergangenem oder als primitiv, defizient rationale Weltsicht einlässt, die getrennt ist von der wissenschaftlichen Weltsicht und ihrer „positiven“ Wahrheit? Was, wenn plötzlich das Realitätsverständnis der Wissenschaft vor dem Gegenstand des Mythos und seiner Wirklichkeit zur Rechenschaft gezogen wird? Und was schließlich, wenn das Rationale, Systematische und Wahre im Mythos und das Irrationale und „Mythische“ in der modernen Wissenschaft als eine für beide gleichermaßen gültige Wirklichkeit im geschichtlichen Raum durchscheint?” (Reinwald, 1991, S.16)

Solche Fragen eröffnen die Möglichkeit andere Wege mit der Thematik zu nehmen. Zugegeben, auch mit diesen Fragen kann man bei der bloßen Vermittlung stehen bleiben. Und auch hier könnte man kritisch einwenden, dass solche Fragen nur versuchen, den Mythos gegenüber den Wissenschaften wieder an Bedeutung gewinnen zu lassen und letztendlich auf eine Rettung des Mythos hinauslaufen sollen, die dann als eine logische Gegenreaktion zum Entmythologisierungsprogramm der Aufklärung zu sehen wäre.

Doch was bedeutet der Begriff Mythos wirklich? Für welche Praktiken steht er? Haben die Menschen der Frühzeit tatsächlich nur in ideologisch verblendeten Zusammenhängen gedacht? Sind die Mythen nur Opium fürs Volk, um den Priestern zu mehr Macht zu verhelfen? Sind Mythen der hilflose und im Grunde zwecklose Versuch in einer feindlichen Umwelt zu überleben? Und wie steht es demgegenüber mit der Naturwissenschaft? Wie „rein“ ist sie wirklich, was versucht sie mit welchen Mitteln zu erreichen, und unter welchen Vorzeichen tut sie das? Welche Konsequenzen bringt naturwissenschaftliches Handeln mit sich? Wir alle scheinen ein bestimmtes Vorverständnis mitzubringen, wenn wir von Mythos und Naturwissenschaft sprechen. Doch wie lässt sich dieses Vorverständnis auf einen gemeinsamen Nenner bringen, und hält dieses Vorverständnis einer genauen Prüfung stand? Diese Fragen sollen in dieser Arbeit gestellt werden, doch ich werde mir mit eigenen Definitionen etwas Zeit lassen, um erst andere aus ihrem Vorverständnis heraus sprechen zu lassen. Aus diesen Vorverständnissen hoffe ich im Laufe der Arbeit hilfreiche Arbeitsdefinitionen destillieren zu können. Wichtig ist es mir dabei, nicht nur auf die internen Mechanismen und Eigenschaften von Mythos und Naturwissenschaft zu achten, sondern auch die externen Faktoren wie die Geschichtlichkeit der Begriffe selbst und ihre ontologischen Positionierungen zu betrachten.

Da die Definitionen und Hypothesen erst während dieser Arbeit entwickelt werden sollen, war es schwierig von vornherein einen geeigneten Titel zu finden. Eine erste Idee war: Naturwissenschaft als Mythos. Ein solcher Titel hätte mich gezwungen, das Mythische an der Naturwissenschaft zu entlarven. Eine sicherlich interessante Aufgabe, die sich aber vollständig innerhalb unseres aufgeklärten okzidentalen Kontextes bewegt hätte und als Versuch hätte verstanden werden können, die Naturwissenschaft einer Kritik zu unterziehen, um sie noch reiner zu waschen und um in ihr auch noch das letzte bisschen Mythos aufzudecken. Unser Vorverständnis wäre damit nicht hinterfragt worden. Der gewählte Titel Naturwissenschaft und Mythos dagegen verleitet zu der Annahme, hier gehe es um einen weiteren Versuch, zwei entgegengesetzte Pole zu vermitteln, einander anzugleichen oder gegeneinander auszuspielen. Doch auch daran ist mir nicht gelegen. Ich möchte vielmehr wissen, welche Funktionen Mythos und Naturwissenschaft normativ ausüben sollen und tatsächlich ausüben und welchen Platz sie wiederum ihrerseits in ontologisch vorentschiedenen Praktiken einnehmen. Um dies zu explizieren, wählte ich den Untertitel: Eine Untersuchung über Funktionen, Risiken und Perspektiven in einer pluralen Welt. Dahinter steht die Vermutung, dass zwei so zentrale Begriffe wie Mythos und Naturwissenschaft Bezeichnungen für konkrete Praktiken sind und als solche nicht unschuldig sein können. Konkrete Praktiken versuchen immer bestimmte Funktionen zu erfüllen wie z.B. Erfahrungen zu verarbeiten, Erkenntnis zu ermöglichen, Handlungsanweisungen bereitzustellen, soziale Stabilität zu gewährleisten usw. Je nachdem wie sie diese Funktionen umsetzen, sind damit aber auch gewisse Risiken verbunden. Erfahrungen können instrumentalisiert, Erkenntnis kann fehlgeleitet, Handlungsanweisungen können totalitär, Stabilität kann zu Zwang und Unfreiheit werden. Zudem möchte ich vermeiden, bloß das wiederzugeben, was mit den Begriffen Mythos und Naturwissenschaft gemäß eines populären Vorverständnisses schon bezeichnet ist, nämlich, dass Naturwissenschaft rationales Wissen von der Welt ermöglicht und Mythos eine irrationale Praxis der Verblendung bezeichnet. So möchte ich nach Wegen außerhalb einer solchen dualistischen Sicht auf die Thematik suchen, die primär mit der Differenzierung zwischen Geist und Materie, Gesellschaft und Natur etc arbeitet. Vielmehr möchte ich nach Wegen suchen, mit denen sich Funktionen und Risiken anders denken lassen und mit denen wir unter Umständen entscheidenden sozialen, ökologischen und politischen Problemen und Herausforderungen in Bezug auf die Perspektiven unserer Welt angemessener begegnen können. Dabei entsteht eine Spannung zwischen dem Dualismus von Naturwissenschaft und Mythos, der unserem herkömmlichen Verständnis entspricht und der pluralen Welt im Untertitel. Die Vorannahme, die ich damit getroffen habe und die weiter unten verdeutlicht werden soll, sagt: unsere Welt ist weder eine Welt, noch eine dualistische, noch eine pluralistische, sondern sie ist plural. (Eine pluralistische Welt verstehe ich als eine Welt, in der vielfältige Haltungen zur Welt zugelassen werden. Eine plurale Welt ist jedoch selbst vielfältig, weshalb der Begriff Welten, den ich später verwenden werde, angemessener erscheint.) Das heißt, sie ist vielfältig auf eine Weise, der wir philosophisch und politisch nicht gerecht werden. Würden wir Möglichkeiten finden, diesem pluralen Zustand der Welt gerecht zu werden, wäre die Welt (und wir mit ihr) in der Tat pluralistisch, doch daran hege ich in dieser Arbeit einen starken Zweifel. Die Vermutung ist vielmehr, dass wir auf alle möglichen und erdenklichen Weisen versuchen, die plurale Welt konzeptionell und handlungsbezogen zu stabilisieren, d.h. ihre Vielfältigkeit durch begrenzende Aussagen und Praktiken zu vereinheitlichen. Daher möchte ich fragen, was für Funktionen Mythen und Naturwissenschaften (im zweiten Teil dieser Arbeit ebenfalls im Plural gesetzt) eigentlich übernehmen, mit welchen Methoden sie ihre Funktionalität intern umsetzen und auf welchen Grundlagen sie dies tun. Die Frage nach den Risiken, die allerdings meist auf pauschalen Urteilen gegenüber dem Mythos und der Naturwissenschaft beruhen, läuft dazu analog. So wird dem Mythos zumeist vorgeworfen, nicht rational zu sein bzw. totale Verblendungszusammenhänge zu etablieren, Macht und Unwahrheit zu festigen. Die Naturwissenschaft hingegen muss sich vorwerfen lassen, kalt, rationalistisch instrumentalisierend und berechnend zu sein. Während der Mythos Macht über Menschen ausübt, so der Tenor dieser Vorwürfe, tut dies die Naturwissenschaft gegenüber der Natur. Doch sind dies tatsächlich immanente Eigenschaften von Naturwissenschaft und Mythos? Ich werde statt dessen versuchen zu zeigen, dass diese Risiken mit eben jenen Stabilisierungstendenzen einhergehen, die, wenn sie absolut formuliert werden, eben jene Vorwürfe begründen. Mythen und Naturwissenschaften zeichnen sich dadurch letzten Endes mit dem gleichen Risiko aus: dass ihre Funktionen durch totalitäre Ansprüche korrumpiert werden.

Ein solcher Blickwinkel auf die Problematik bricht mit vielen Konventionen sowohl der Mythosforschung als auch der Naturwissenschaftstheorie und muss eigene Maßstäbe entwickeln, an denen er gemessen werden kann. Das soll parallel zu der Erörterung der Problematik geschehen und wird in dieser Arbeit kaum mehr als ein erster Versuch sein können, weshalb sie auch mit den Perspektiven, sowohl in Bezug auf das Thema als auch auf die Methodik, abschließt. Das heißt, ich hoffe Aufschluss darüber geben zu können, wie wir in Zukunft mit den Funktionen, die Mythen und Naturwissenschaften übernehmen, umgehen und dabei Risiken möglichst vermeiden bzw. mildern können. Dies geht meines Erachtens nur, wenn wir auch neue Perspektiven in Bezug auf unsere Betrachtung von Mythen und Naturwissenschaften erschließen. Denn die Konzepte, nach denen wir uns Mythen und Naturwissenschaften denken, beeinflussen deren interne Funktionen und Risiken ebenso, wie diese wiederum Einfluss auf unser Konzepte haben.

Da der Bogen, der in dieser Arbeit geschlagen werden soll, für eine Situierung von Erkenntniswegen und Weltbezügen plädiert, scheint es mir angemessen, die Situierung dieser Arbeit zu verdeutlichen, damit die Motivationen deutlich werden, vor deren Hintergrund diese Arbeit geschrieben wurde. Donna Haraway konzipiert ihr Kriterium für wissenschaftliche Objektivität gerade an der Situierung wissenschaftlicher Ergebnisse. Situierung bezieht die komplexe Situation, das heißt die psychischen, technischen, kulturellen und physischen Faktoren sowie die Perspektive der WissenschaftlerInnen in den Prozess der Erkenntnisverarbeitung und Wissensgenerierung mit ein. Nur im Rahmen dieses Kontextes können Fakten nach Haraway einen tatsächlichen Erkenntniswert besitzen. Seriöse Wissenschaft muss daher immer darum bemüht sein, die Motivationen, Intentionen und den komplexen Kontext des Forschungsprojekts mit zu berücksichtigen, bzw., wenn das in seiner Komplexität nicht bewerkstelligt werden kann, diese Einflüsse auf den Forschungsprozess zumindest nicht zu leugnen. So wird nicht nur der Forschungskontext als konstituierender Teil der Forschung selbst zugänglich, sondern auch der Bedeutungsgehalt der Resultate geschärft. (Haraway, 1995a, S.89) Es gibt allerdings zwei “gute” Gründe, all diese Faktoren nicht zu erwähnen: Der eine Grund ist, dass man mit seiner Arbeit objektive Allgemeingültigkeit erlangen möchte und fürchtet, jede Erwähnung subjektiver Einflüsse auf die Arbeit könne ihren objektiven Wahrheitsgehalt schmälern, in Frage stellen und mögliche Angriffspunkte für Kritiker liefern, die Ergebnisse der Arbeit mit abschätziger Geste zu verwerfen. Der andere Grund dafür, diese Faktoren nicht zu erwähnen, ist die berechtigte Angst, den Lesern könnten die weltanschaulichen Intentionen bewusst werden, die ihnen mit einer vorgegebenen wissenschaftlichen Forschung verkauft werden sollen. Während diese Haltung eine ausgesprochen unredliche ist und offensichtlich auf mangelndes demokratisches Verständnis der Autoren hinweist, die mit der Autorität der Wissenschaft bewusst zu manipulieren versuchen, zeugt jene von einem naiven Verständnis wissenschaftlicher Praxis, das angenommene Fakten realen Diskursen vorzieht. Zumindest aber zeugt sie vom Glauben an die Möglichkeit absoluter Objektivität in der Arbeit eines einzelnen Wissenschaftlers. So schreibt Ivan Strenski zu diesem Verhalten in Bezug auf die Forschung an Mythen: „(…) theorists typically assume and apply far more than they let on; they trade in the currency of their cultures much more than they perhaps realise – all the while giving quite the other impression. (…) They hide their ‘prescriptions’ within apparent ‘descriptions’”. (Strenski, 1987, S.2) Wenn ich im Folgenden also meine Motivation sowie einige Prämissen dieser Arbeit offen lege, so bildet sich gerade daraus der Hintergrund, vor dem die Ergebnisse dieser Arbeit als Beitrag eines wissenschaftlichen Diskurses gelesen und interpretiert werden können.

Eine Motivation zu dem hier gewählten Thema erwuchs aus der Frage, ob und wie unsere philosophischen Konzepte Einfluss haben auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass zwischen Philosophie und unserem Handeln in der Welt ein reziprokes Verhältnis vorherrscht. Unsere philosophischen Konzeptionen sind zwar einerseits Versuche unseren Ort in der Welt und unser Verhältnis zu ihr zu bestimmen und zu beschreiben, andererseits sind sie aber auch präskriptiv, d.h., sie festigen unser Weltverständnis in dem Maße, in dem sie es zu ergründen versuchen. Sie lassen latent vorhandene Weltbezüge zu Handlungsmustern gerinnen. Demzufolge lässt sich mit Recht die Frage stellen, ob die ökologischen, sozialen und politischen Probleme, vor denen wir heute stehen, ihren Ursprung unter anderem auch darin finden, wie wir uns unser Verhältnis zur Welt vorstellen. Denn dies hat wiederum entscheidenden Einfluss darauf, wie wir in der Welt handeln und welche Strategien wir verfolgen, um uns zurechtzufinden und die Güter zu erlangen, die wir als erstrebenswert erachten, seien dies beispielsweise materieller Wohlstand, Glück, Friede oder Erkenntnis. Eine solche Grundprämisse (dass das Sein und die Beschreibung des Seins, wie es Philosophie, aber auch Naturwissenschaft und Mythos unternehmen, in einem reziproken Verhältnis stehen) eröffnet Chancen und Perspektiven: Mit neuen oder veränderten Konzepten lässt sich auch auf unsere Praxis Einfluss nehmen und zwar weit über die Strategien einer rein instrumentellen Vernunft hinaus, die gebunden ist an die von wissenschaftlichen Konzepten beschriebenen Fakten. Trotzdem – so wird auch in dieser Arbeit zu zeigen sein, haben wir nicht jede beliebige Möglichkeit, neue Konzepte im Sinne eines radikalen Konstruktivismus zu entwerfen. All unsere konzeptionellen Bemühungen müssen sich wiederum in der Praxis und damit an der Materialität der Welt (vgl. Butler, 1995) als relevant erweisen. Das heißt, sie müssen Wissen und Bedeutungen generieren können, auf deren Grundlage sich in dieser Welt möglichst gut und herrschaftsfrei leben lässt. Materielle und ideelle, politische und wissenschaftliche Faktoren sind damit nur Aspekte der gleichen konzeptionellen Arbeit an unseren Weltbezügen.

Folgt man diesem Gedanken des reziproken Verhältnisses von Sein und der Beschreibung des Seins, von Welt und Weltbezug gerade auch in Hinsicht auf die Funktionen und Risiken von Mythen und Naturwissenschaften, so stößt man immer wieder auf dualistische Grundannahmen, die sich so tief in das Gewebe unseres gesamten Weltverständnisses eingefügt haben, dass man aus Angst, das ganze Gewebe auf einmal zu zerreißen, sich nur zaghaft an sie heranwagt. So bildet nicht nur das Paar Mythos – Naturwissenschaft selbst einen solchen Dualismus, sondern auch die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften bewegen sich innerhalb dualistischer Denkfiguren wie z.B., rational – emotional, aufgeklärt – verblendet, autonom – kausal determiniert, Natur – Kultur, objektiv – subjektiv. Mit diesen Zuschreibungen sind oft Wertungen und Hierarchisierungen verbunden, auf deren Grundlage macht-zentriertes Handeln nicht nur möglich, sondern vor allem legitimierbar wird. Dass gerade diese Zuschreibungen somit mit von Belang sind, wenn wir nach den Risiken von Mythos und Naturwissenschaft fragen, wird jedoch meist missachtet. Statt dessen werden besondere Sichtweisen dieser Dualismen angeboten, die entweder einen Pol der Dualismen bevorzugen oder beide auf vielfältige Weise miteinander zu vermitteln versuchen. Nur äußerst selten werden die zweiwertigen Logiken generell auf den Prüfstand gestellt, meist, um mit einem Metadualismus aufzuwarten, was wie eine Umkehr mitten im Sprung wirkt. Wahrscheinlich sind wir mit dem zweiwertigen Denken historisch und persönlich so tief sozialisiert worden, dass wir es als rein Deskriptives akzeptieren und es uns schwer fällt, das Präskriptive daran zu sehen. Vielleicht gibt es aber auch einen viel profaneren Grund: Jede nichtzweiwertige Logik stünde anfangs auf so schwachen Füßen, sowohl konzeptioneller und methodischer Art als auch in Bezug auf die Erfahrungen, wie mit ihr zu operieren sei, dass sie nicht nur leicht angreifbar wäre, sondern auch in Bezug auf ihren Erklärungsgehalt und Praxisbezug nur wenig vorzuweisen hätte. Von einer solchen Theorie am Anfang ihrer Entwicklung zu erwarten, sie könne schon Gleiches oder Besseres als ihre Vorgänger leisten, ist ein überhöhter Anspruch. Auch muss man ihr zugestehen, dass sie möglicherweise Perspektiven entwickelt, für die sich kein gemeinsamer Bezugsrahmen mit den Perspektiven der dualistischen Theorien finden lässt. Wünschenswert wäre allerdings, dass sie punktuell ein Licht darauf wirft, was sie in ihrer Reife möglicherweise zu leisten vermag. Ein solches Unterfangen soll in dieser Arbeit versucht werden, und der Umschwung wird sich innerhalb dieser Arbeit vollziehen. Letztendlich werden auf diese Weise zwei Paradigmen  (Eine Diskussion des Begriffs Paradigma nehme ich im Abschnitt I.3.2. vor) miteinander verglichen, was schlechterdings wegen des Fehlens eines gemeinsamen Bezugrahmens nicht möglich ist. Kuhn spricht daher von zu leistender Überredungsarbeit. (Kuhn, 1967, S.106) Überredung ist jedoch nicht Ziel dieser Arbeit. Vielmehr möchte ich dazu einladen, einem Gedankenexperiment zu folgen, um gemeinsam auszuloten, ob sich uns Alternativen anbieten, mit denen sich Funktionen und Risiken von Mythen und Naturwissenschaften neu denken und damit neu bewerten lassen oder nicht. Dieses Experiment liegt darin, in dieser Arbeit nach und nach dualistische durch pluralistische, geschlossene durch offene Denkfiguren zu ersetzen. Nur so können tatsächliche Perspektiven für eine plurale Welt deutlich werden. Dabei besteht die Hoffnung, dass am Ende dieses Prozesses einerseits eine Deutung des Themenkomplexes von Naturwissenschaft und Mythos anhand ihrer immanenten Funktionen entsteht und andererseits ein punktuelles Licht auf die Möglichkeiten eines solchen Verfahrens mit Rücksicht darauf geworfen wird, dass sich dieses Verfahren erst durch den methodischen Prozess selbst in einem ersten Entwurf konkretisiert.

Im ersten Teil dieser Arbeit bewege ich mich dabei ganz im tradierten Rahmen abendländisch-aufgeklärter Mythosforschung und Naturwissenschaftstheorie. So werde ich im ersten Kapitel einige hervorstehende Konzeptionen und Gedanken der Mythosforschung über den Mythos und Mythen allgemein (ein Unterschied, den ich ebenfalls dort explizieren werde) vorstellen. Dabei möchte ich versuchen, einen neuen Zugriff auf Mythen zu erreichen, indem ich Mythen unter dem Fokus des Geschichtenerzählens betrachte. Dies scheint nicht nur plausibel, wenn wir uns Mythen so dicht wie möglich nähern wollen, sondern ist auch konzeptionell für den Fortgang der Arbeit bedeutend. Denn das Geschichtenerzählen rückt die direkte Praxis in den Vordergrund, durch die Funktionen und Risiken erst zur Wirkung gelangen und hilft uns damit den nötigen Abstand zu den nur vermittelt zugänglichen Inhalten zu finden. Im Verlauf dieses Kapitels werde ich auch Arbeitsdefinitionen der Begriffe Mythos, Mythen und Mythologien aufstellen. Die Überleitung zum Kapitel über die Naturwissenschaft nehme ich mit einer Diskussion von Aspekten aus Kurt Hübners Die Wahrheit des Mythos vor. Hübners Buch kann als Versuch gewertet werden, den Mythos retten zu wollen, auch wenn jener selbst beteuert, es sei ihm ausschließlich an einer sachlichen – und damit ist wahrscheinlich gemeint, neutralen und vorbehaltslosen – Auseinandersetzung mit dem Mythos gelegen.  Seine Ausführungen werden aber in zweierlei Hinsicht von Interesse sein. Zum Einen bereitet er mit seinem Versuch, sowohl die Logik des Mythos mit der der Naturwissenschaften zu vergleichen, als auch mit seiner Relativierung naturwissenschaftlicher Ontologien, das Kapitel über Naturwissenschaft vor. Zum Anderen werden wir hier geballt auf die Paradoxien stoßen, die das Konzept von Mythos und Naturwissenschaft (beides im Singular) mit sich bringt, versucht man einen sachlichen Vergleich. Denn schon der Gebrauch der Begriffe Mythos und Naturwissenschaft beinhaltet eine Vorentscheidung, die nicht mehr rein sachlich und vor allem nicht mehr vorbehaltlos ist. Im Kapitel über Naturwissenschaft werde ich zuerst auf naturwissenschaftliche Methoden zu sprechen kommen. Methode heißt im griechischen „der Weg zu etwas hin“. Methoden können damit im Zusammenhang der Fragestellung dieser Arbeit gewertet werden als die Verfahren, mit denen die Funktionen von Mythos und Naturwissenschaft umgesetzt werden. Es stellt sich daher die Frage, ob und inwiefern die Methoden von Mythos und Naturwissenschaft unterschiedlich sind und im Hinblick auf welche Funktionen sie gewählt wurden. Anhand von Thomas Kuhn werde ich weiterhin versuchen, das Selbstbild der Naturwissenschaft auf den Prüfstand zu stellen und jene einer Historisierung zugänglich zu machen. Erst dadurch wird es tatsächlich möglich, Mythen und Naturwissenschaften sowie ihre Funktionen und Risiken zwar nicht vorbehaltlos, aber zumindest auf gleicher Ebene zu verhandeln. Als Überleitung in den zweiten Teil der Arbeit werde ich dann die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno diskutieren. An diesem Werk wird zum einen die Dialektik selbst als eine offene Denkfigur interessieren, die als Erkenntnismethode in der Lage ist, die bei Hübner ans Licht gekommenen Paradoxien zu denken ohne sie auflösen zu müssen. Sie bietet daher einen Anhaltspunkt dafür, was auf konzeptioneller Ebene vom zweiten Teil dieser Arbeit gefordert sein muss. Zum anderen konkretisiert sie Funktionen und Risiken von Mythos und Aufklärung in einer Weise, die weder gegenüberzustellen noch zu vermitteln versucht.

Der zweite Teil trägt die Überschrift Welten. Er nimmt damit auf, was im ersten Teil expliziert worden ist und versucht die Diskussion auf der Ebene der bisher gewonnenen Erkenntnisse unter veränderten Vorzeichen weiterzuführen. Dazu stelle ich die Aktor-Netzwerk Theorien von Bruno Latour und Donna Haraway vor, die mir geeignet erscheinen, die Frage von Funktionen und Risiken von Mythen und Naturwissenschaften als Weltbezüge neu zu stellen. Denn mit diesen Theorien ist es möglich, sowohl die Ähnlichkeit zwischen Mythen und Naturwissenschaften zu denken, als auch die Verschiedenheiten in Betracht zu ziehen, die nicht nur zwischen Mythen und Naturwissenschaften, sondern auch zwischen verschiedenen Mythen und verschiedenen Naturwissenschaften bestehen. An dieser Stelle werde ich das Geschichtenerzählen wieder aufgreifen und es nun als kommunikative Praxis untersuchen, die allen Weltbezügen zugrunde liegt. Gegen Ende werde ich dann aus einer Begriffsklärung heraus weiterführende Fragen stellen und einige Vorschläge zu ihrer Lösung unterbreiten. Auf diese Weise hoffe ich ein neues Verständnis über das, was Mythen und Naturwissenschaften sind und leisten können herauszuarbeiten und damit Perspektiven zu ermöglichen, wie deren Funktionalität mit minimierten Risiken gewährleistet werden kann.

Weiter zu Naturwissenschaft und Mythos (II) 

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