Naturwissenschaft und Mythos (II)

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I.1.1. Mythos und Mythenforschung
Sicherlich der größte Diskussionszusammenhang um den Mythos bildet die Mythenforschung selbst. Ich werde, bevor ich einige zentrale Themen der Mythenforschung anspreche, kurz auf das sich ihr stellende Problem von Mündlichkeit versus Schriftlichkeit bei der Analyse von Mythen eingehen. Denn mit dem Anspruch, Mythen so verstehen zu wollen, wie sie innerhalb ihrer kulturellen Kontexte verstanden wurden, wurde von der Mythenforschung des letzten Jahrhunderts vor allem auf die inhaltliche Interpretation und die Systematisierung und Klassifizierung der mythischen Texte gesetzt. Dies geschah entweder anhand schon vorhandener Quellen (vornehmlich der griechischen Mythologie) oder durch gesammelte Texte aus der ethnologischen Feldforschung an sogenannten primitiven, archaischen bzw. Naturvölkern. Doch Mythen wurden in erster Linie erzählt, d.h. sie wurden oral tradiert und variiert. Es scheint mir daher riskant, Mythen außerhalb dieses ursprünglichen Mediums zu betrachten, das gleichzeitig auch Praxis mythischen Weltverstehens war. Versucht man dagegen Mythen anhand schriftlich fixierter Texte außerhalb ihres Erzählrahmens zu analysieren, ist das in etwa so, als wolle man Filme ausschließlich anhand ihrer Drehbücher analysieren. So schreibt Christoph Jamme: „Der Mythos war immer mündliche Erzählung des Mythos und an die schriftlose Kultur gebunden; mit dem Übergang zur schriftlichen Fixierung wurde sein Wesen verfälscht. So werden zwar die griechischen Mythen (…) erst deutbar, wo sie literarisch gestaltet wurden, aber wie die Griechen selbst ihre Götter erlebten, erfahren wir auf diese Weise nicht“. (Jamme, 1991a, S.2)

Texte wie die der Homerischen Kunstmythen stehen uns heute ebenso zur Verfügung wie die der Edda, des Popul Vuh, der Kalevala sowie vieler anderer Mythen, Epen, Legenden und Volkserzählungen. Doch überall müssen wir davon ausgehen, dass die Niederschrift selbst in den seltensten Fällen ganz im Dienst der jeweiligen Werke stattgefunden hat, sondern vielmehr schon von einem Bedürfnis des Erhaltens, des Forschens, des Sammelns, des Interpretierens durch eigene Forschungsinteressen geleitet wurde und damit zumeist einen starken weltanschaulichen Stempel des jeweiligen Chronisten trägt. Dies ist z.B. der Fall bei der Edda, die erst 1220 von dem isländischen christlichen Mönch Snorri Storluson aufgezeichnet wurde oder der Kalevala, deren zusammenhängende Form erst 1828-1833 mit der Sammlung und Redigierung unterschiedlichster Fragmente von Liedern und Volkserzählungen entstanden ist. Es ist anzunehmen, dass auch schon Homer auf diese Weise verfuhr. Dieses Problem hat sich auch mit der neueren Anthropologie und Ethnologie nicht entscheidend geändert. Strenski, der dieses Problem in den Mittelpunkt seiner eigenen Forschung gestellt hat, schreibt über die großen Mythenforscher des letzten Jahrhunderts Ernst Cassirer, Mircea Eliade, Claude Lévi-Strauss und Bronislaw Malinovski: „(…) current concepts and theories of ‘myth’ have been manufactured according to the larger theoretical, professional and cultural projects assumed by the twentieth century’s leading myth theorists”. (Strenski, 1987, S.2) Eine Mythenforschung, die sich dieses Problems bewusst wäre, müsste demnach eben jene Intentionen offen zur Sprache bringen, statt vorzugeben, etwas Faktisches über Erleben und Verständnis von Mythen bei den “archaischen” Völkern aussagen zu können. Immerhin erkannten die Forscher mehr und mehr die Bedeutung des Kontextes der mythischen Texte an. So schreibt Robert A. Georges in Zusammenhang mit dem Sammeln von Geschichten:

„Nineteenth- and early twentieth-century folktale scholars provide little or no information about the individuals who served as the sources of the tales they collected. Convinced that all the ‘folk’, or all members of particular ‘folk groups’, possessed a single, common narrative repertoire, pioneering fieldworkers felt no need to distinguish one informant from another. (…) Conceptualizing and characterizing folk narrators as the last remaining ‘bearers’ and perpetuators of ancient tales that were destined for extinction, nineteenth- and early twentieth-century scholars concerned themselves with discovering and documenting the stories that their sources knew. They felt no obligation to describe how informants behaved when they assumed the narrator’s role, and no need to determine how informants’ behaviors as narrators might have been shaped and reinforced by idiosyncratic experiences and interests.” (Georges, 1990, S.49)

Diese Haltung hat sich Georges zufolge insofern in der ethnologischen Forschung geändert, als dass auch der kulturelle Kontext von Geschichten ins Blickfeld der Forscher rückte, auch wenn die Individuen weiterhin vernachlässigt wurden. Auch hier sind die Forscher davon ausgegangen, dass Geschichten kulturelles Inventar einer homogenen Gruppe etwa eines primitiven Volksstammes sind. Nur langsam hat die zunehmende Kritik zu einem Umdenken geführt: „This emphasis on the need for ‚contextual data’ has prompted increasing numbers of folk narrative scholars to make information about storytellers – and, to a lesser extend, about audience members – a part of their records and presentations”. (Georges, 1990, S.50)

Die Mündlichkeit selbst jedoch bleibt bis heute ein marginalisierter Aspekt. Ich werde jedoch trotz dürftiger Quellenlage versuchen, die Narration als konstituierendes Element des Mythos in dieser Arbeit zu berücksichtigen. Dabei kann es aber nicht darum gehen, eine weitere Interpretation eines mythischen Bewusstseins zu versuchen (so es das denn gibt), unterstellte ich damit doch ebenso wie die soeben kritisierten Chronisten und Mythenforscher, ich verfügte über ein Referenzsystem, das einen objektiven Vergleich zwischen meiner Weltsicht und der der jeweiligen mythischen Kulturen zulässt. In dieser Arbeit kann es einerseits nur um die Praxis und die Subjekte der Praxis von Mythos (und Naturwissenschaft) gehen und andererseits um den Begriff des Mythos, wie er in der abendländischen Tradition rezipiert wurde und damit um dessen Funktionen innerhalb philosophischer Grundkonzepte. Ich möchte im Folgenden trotzdem einige der wichtigen Thesen prüfen, die zentrale Positionen innerhalb der Mythosforschung eingenommen haben. Zum einen, weil ich hoffe, Hinweise über Funktionen und Risiken zu erhalten, die auch dem Kriterium der Situierung standhalten, zum anderen, weil sie Aufschluss geben über die Ontologien, die der Mythosforschung selbst zugrunde liegen.

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