Naturwissenschaft und Mythos (II)

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I.1.1.3. Mythisches versus aufgeklärtes Denken?

Mit dem 20. Jahrhundert änderte sich dieser Blickwinkel langsam. Durch die Industrialisierung und den ersten Weltkrieg wurde der Zivilisations- und Fortschrittsglaube zunehmend in Frage gestellt. Die Ethnologie begann nun, sich ernsthafter mit den fremden Kulturen auseinander zu setzen, womit man sich von der rein philosophischen, auf die griechischen Mythen bezogenen Fokussierung löste. Dieser neu entstehende Vergleich von mythischem und aufgeklärtem Denken wird somit zu einem weiteren wichtigen Aspekt in der Auseinandersetzung mit Mythen. Jamme schreibt:

„Ethnologie und Psychologie gelangten zu dem Ergebnis, dass jeder Mythos, sogar der sonderbarste, es verdient, auf seinen Wahrheitsgehalt untersucht zu werden. Als die Europäer zum ersten Mal die Religionen der großen Kulturen Westafrikas (wie der Yoruba in Nigeria, der Ashanti in Ghana oder der Bevölkerung von Dahomey) kennen lernten, entdeckten sie mit Erstaunen Götterwelten, Mythen und Kulte, die ebenso kompliziert und reich wie jene der alten Griechen waren.“ (Jamme, 1991a, S.91f)

Vor allem Lévi-Strauss als wichtigem Vertreter des Strukturalismus kommt das Verdienst zu, dem mythischen Denken einen Stellenwert zugestanden zu haben, welcher ihm zufolge zumindest auf den ersten Blick mit dem wissenschaftlich-rationalen Denken gleichgestellt werden kann. Lévi-Strauss zeigt damit die Bereitschaft, sich tatsächlich auf den Denkmodus von Mythen einzulassen. In Mythos und Bedeutung schreibt er:

„In „Das Ende des Totemismus“ und „Das wilde Denken“ habe ich z.B. zu zeigen versucht, dass jene Menschen, von denen wir gewöhnlich meinen, sie stünden ausschließlich unter dem Zwang des Überlebenstriebs und könnten noch unter sehr harten materiellen Bedingungen gerade noch existieren, durchaus zu uneigennützigem Denken fähig sind, d.h. dass sie das Bedürfnis oder den Wunsch haben, die sie umgebende Welt, deren Natur und ihre Gesellschaft zu verstehen. Und um dieses Ziel zu erreichen, gehen sie mit Hilfe des Intellekts vor, genauso wie ein Philosoph, in gewissem Maße sogar ein Wissenschaftler es tun würde.“ (Lévi-Strauss, 1980, S.28)

Wenn Lévi-Strauss auch annimmt, dass Denken immer Denken sei und wir vielleicht „eines Tages entdecken, dass im mythischen und im wissenschaftlichen Denken die selbe Logik am Werk ist, und dass der Mensch alle Zeit gleich gut gedacht hat“ (Lévi-Strauss, 1971, S.253f), so kann auch er nicht umhin zu konstatieren, dass das mythische Denken gegenüber dem wissenschaftlichen Denken „in gewisser Hinsicht hinter ihm zurück“ (Lévi-Strauss, 1980, S.29) bleibt. Denn das mythische oder auch wilde Denken versucht ihm zufolge, die Welt in ihrer Totalität zu ergründen – ein Anspruch, dem natürlich nie vollkommen nachgekommen werden kann, während das wissenschaftliche Denken darum bemüht ist, konkretes Wissen zu erlangen – ein Anspruch, den es nach Lévi-Strauss auch einlöst. Auf diese Weise gibt das wissenschaftliche Denken reale Macht über die Umwelt, während das mythische Denken nur eine Illusion von Macht über die Umwelt schafft. (Lévi-Strauss, 1980, S.29) Diese Einschätzung ist insofern irritierend, da Lévi-Strauss im gleichen Atemzug davon spricht, dass schriftlose Völker ihre Umwelt erstaunlich gut kannten. (Lévi-Strauss, 1980, S.31) Jamme schreibt über Lévi-Strauss` Mythostheorie: „Immer geht es um die Lösung von zwei Grundproblemen, die Erwerbung der Subsistenz und die Selbsterhaltung und Fortzeugung. Diese Motive kehren in jedem Mythos wieder, weshalb man den Mythos – wie die Wissenschaft – als Versuch einer Problemlösung definieren kann“. (Jamme, 1991a, S.122) Subsistenzerwerb und Selbsterhaltung werden bei Lévi-Strauss somit als Funktionen sowohl des Mythos als auch der Naturwissenschaft ausgewiesen.

Wichtig ist an dieser Stelle der Impuls Lévi-Strauss, sich dem Denken des Mythos zu stellen. Wenn man, wie ich es mit dieser Arbeit versuche, Funktionen und Risiken von Mythen untersuchen möchte, muss man die Bereitschaft mitbringen, sich auf den Denkmodus der Mythen einzulassen. Lévi-Strauss’ Ansatz, jedes Denken grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander zu stellen, ist dafür ein wichtiger erster Schritt. Leider hat Lévi-Strauss jedoch diese eigene Forschungsprämisse in der Hinsicht umgesetzt, dass er im Denken von Mythos und Naturwissenschaft grundsätzlich die selbe Logik am Werk sah. Wir stoßen hier auf die fatale Einstellung, etwas müsse gleich sein, um auch gleich bewertet werden zu können. Mir scheint es statt dessen wichtig zu zeigen, dass etwas anders sein kann, ohne dass sich daraus ein Widerspruch oder eine hierarchische Wertung ergibt. Sonst passiert genau das, was Lévi-Strauss trotz seiner offenen Grundeinstellung passiert ist: Er hat in mühsamster und konzeptionell anspruchvollster Interpretationsarbeit versucht, die inhaltlichen Strukturen unterschiedlichster Mythen verschiedener Kulturen einerseits auf eine gemeinsame, einheitliche Struktur zurückzuverfolgen, ohne sich gefragt zu haben, ob es tatsächlich plausibel ist, von dem Mythos anstatt den Mythen auszugehen (ich werde auf diese Unterscheidung noch zurückkommen). Andererseits hat er auf die Mythen, die er analysierte, ein hochkomplexes Interpretationsraster angewendet, das vor allem sich selbst legitimierte. Indem er inhaltliche Vorgänge in Mythen auf eine überschaubare Sammlung von Kernaussagen, sogenannten Mythemen, reduzierte, konnte er jeden Mythos jeder Kultur in ein gleiches Interpretationsraster einordnen. Im unlegitimen Rückschluss war dies für Lévi-Strauss ein Beweis dafür, dass den verschiedenen Mythen eine einheitliche Struktur zugrunde liegt. Dies ist ein Verfahren, als schneide man Gegenstände so lange zurecht, bis sie in Schubladen passen und behaupte nachträglich, die Schubladengröße sei die grundlegende Struktur der gesammelten Gegenstände. (Wobei die Behauptung und nicht das Zuschneiden das Problem ist. Dieses kann durchaus als berechtigte Praxis zur Komplexitätsreduzierung gelten.) Lévi-Strauss’ Konzept ist zudem solcher Art, dass es ohne tabellarische und schriftliche Kategorisierungen nicht anwendbar ist. Man fragt sich, wie sich in schriftlosen Kulturen eine so hochkomplexe Struktur des Mythos hat ausbilden können. So haben wir am Ende eine einheitliche Struktur aller Mythen und damit den Mythos, dessen Aufbau scheinbar den Ansprüchen wissenschaftlicher Rationalität genügt. Aber der Frage, ob dieser Mythos noch etwas mit den mannigfaltigen Mythen zu tun hat, aus denen er reduziert wurde und ob mythisches Denken, so es das denn gibt, damit treffend charakterisiert ist, ist man kein Stück näher gekommen.

Ein solches Vorgehen stößt uns auf ein grundlegendes Problem, das schon kurz angeklungen ist. Können wir Mythen, die anscheinend einem anderen Weltverständnis entspringen als unserem, mit unserem eigenen Weltverständnis überhaupt treffend begreifen? Wie unser eigenes Verständnis uns bei der inhaltlichen Interpretation von Mythen im Weg steht, möchte ich kurz an einem ebenfalls von Lévi-Strauss angeführten Beispiel zeigen. In Mythos und Bedeutung spricht er von einem Mythos aus Westkanada: „Die Erzählung spielt in einer Zeit, da es noch keine Menschen auf der Erde gab, das heißt einer Zeit, da Tiere und Menschen nicht wirklich unterschieden, die Lebewesen noch halb Mensch halb Tier waren“. (Lévi-Strauss, 1980, S.33) Lévi-Strauss ringt förmlich nach Worten, um zu erklären, warum sich scheinbare Tiere wie Menschen verhalten bzw. andersherum. An anderer Stelle heißt es: „Es kam zu einem Feldzug, an dem verschiedene menschliche Tiere und Tiermenschen teilnahmen“. (Lévi-Strauss, 1980, S.33) In der Folge versucht Lévi-Strauss zu zeigen, dass in dieser „Geschichte, die sich nie zugetragen hat“ ein Tier als binärer Operator fungiert. Er schreibt dazu: „Auch wenn die Geschichte wissenschaftlich gesehen nicht stimmt, so bleibt doch festzuhalten, dass wir die genannte Eigenschaft des [nicht dieses – JR] Mythos erst dann verstehen konnten, als es in der wissenschaftlichen Welt die Kybernetik und Computer gab und es uns mit ihrer Hilfe möglich wurde, binäre Operationen zu verstehen, die das mythische Denken schon vorher in ganz anderer Weise an konkreten Gegenständen oder Lebewesen vorgenommen hatte“. (Lévi-Strauss, 1980, S.33) Richtiger scheint mir jedoch die andere Argumentationsrichtung: die wissenschaftliche Welt der Kybernetik und Computer gab Lévi-Strauss binäre Operatoren als Werkzeug an die Hand, die er dann auf den (konkreten) Mythos anwandte, der durch diese Brille betrachtet eine Antwort gab, die die Validität des Werkzeugs zu bestätigen schien. Wie man sich Mythen auch nähern kann, um einen kommunikativen Verstehensprozess einzuleiten, zeigt der Ethnologe Jaíme de Angulo im direkten Gespräch mit Old Bill von den Pitt River Indians, das er ohne den Versuch einer Deutung protokolliert hat. Dabei geht es um das gleiche Problem, das Lévi-Strauss bei der Bestimmung seiner „menschlichen Tiere“ hatte:

„ “All right, Bill, but tell me just one thing now: there was a world now; then there were a lot of animals living on it, but there were no people then….“

“Whad’you mean there were no people? Ain’t animals people?”

“Yes they are…but…”

“They are not Indians, but they are people, they are alive…Whad’you mean animal?”

“Well…how do you say ‘animal’ in Pit River?”

“…I dunno…”

“But suppose you wanted to say it?”

“Well… I guess I would say something like teeqaadewade toolol aakaadzi (world-over, all living)…I guess that means animals, Doc.”

“I don’t see how, Bill. That means people, also. People are living, aren’t they?”

“Sure they are! that’s what I am telling you. Everything is living, even the rocks, even that bench you are sitting on. Somebody made that bench for a purpose, didn’t he? Well then it’s alive, isn’t ist? Everything is alive. That’s what we Indians believe. White people think everything is dead….”

“Listen, Bill. How do you say ‘people’?”

“I don’t know… just is, I guess.”

“I thought that meant ‘Indian.’”

“Say…Ain’t we people?!”“

(Angulo, 1990, S.71f)

Wir können nicht wirklich verstehen, was Old Bill sagt. Innerhalb eines Weltverständnisses, das die Welt in Subjekte und Objekte trennt, in Menschen und Tiere (Natur), können Old Bills Aussagen nur als paradox, irrational, wenn nicht gar animistisch gewertet werden. Da helfen uns auch binäre Operatoren nicht weiter. Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich statt dessen ein Konzept darstellen, mit dem Old Bills Aussagen rational erscheinen ohne dabei mit wissenschaftlichem Denken gleichgestellt werden zu müssen und ohne den Anspruch zu erheben damit Old Bills Verständnis deckungsgleich begreifen zu können.

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