Naturwissenschaft und Mythos (III)

/

I.1.4. Geschichten
Mit diesen Definitionen müssen wir nun nach den Mythen, den Geschichten selbst und der Art, wie sie kommuniziert werden, also wie ihre kommunikative Praxis funktioniert, fragen, um mehr über ihre Funktionen zu erfahren. Dafür beziehe ich mich neben den Quellen der Mythenforschung auch auf weitere Quellen: Zum einen gibt es einen Aufsatz von Walter Benjamin Der Erzähler (Benjamin, 1961), in dem eine umfangreiche Analyse über das mündliche Erzählen zu finden ist. Zum anderen hilft es, sich bei denen umzusehen, die das mündliche Erzählen immer noch oder wieder als Kunstform betreiben. Der englische Geschichtenerzähler Ben Haggarty verfügt über langjährige Erfahrung als professioneller Geschichtenerzähler und hat im Laufe seiner Arbeit mit Geschichtenerzählern aus anderen Kulturkreisen gearbeitet, die, anders als in Europa, noch über lebendige Erzähltraditionen verfügen. (vgl. Haggarty, 1996, S.15ff ) Sein Aufsatz Seek out the voice of the critic (Haggarty, 1996) gibt viele dieser Erfahrungen und Erkenntnisse seiner Arbeit wieder.

Nach Benjamin haben Erzählungen an erster Stelle die Funktion, Erfahrungen auszutauschen. Sie geben Rat und führen einen eigenen Nutzen mit sich, der in einer Moral, einer Lebensregel, einer praktischen Anweisung oder einem Sprichwort besteht. Damit sind sie zugleich inhärentes Element der Gesellschaft. Diese praktische Ausrichtung von Erzählungen bedeutet jedoch nicht, dass in ihnen fertige Antworten oder Regeln vermittelt werden. Vielmehr ist der Rat von Erzählungen als Vorschlag aufzufassen, der sich ins praktische Leben einfügt. (Benjamin, 1961, S.412) Durch Erzählungen wird Weisheit übermittelt, die ohne Erklärungen auskommt: „Das Außerordentliche, das Wunderbare wird mit größter Genauigkeit erzählt, der psychologische Zusammenhang des Geschehens aber wird dem Leser nicht aufgedrängt. Es ist ihm freigestellt, sich die Sache zurechtzulegen, wie er sie versteht, und damit erreicht das Erzählte eine Schwingungsbreite, die der Information fehlt“. (Benjamin, 1961, S.416) Dies deckt sich auch mit Haggartys Beobachtung, nach der Erklärungen sparsam in Geschichten eingesetzt werden. Wenn eine Geschichte doch eine Erklärung enthält, ist diese meist versteckt oder metaphorisch enthalten, so dass nur diejenigen Zugang zu den Inhalten erhalten, die durch die Symbolsprache ihrer Kultur oder Religion einen passenden Interpretationsschlüssel besitzen, der meist bei den Zuhörern, die über die gleichen Interpretationsschlüssel verfügen, auch zum Verständnis einer ähnlichen Botschaft einer Geschichte führt.

Haggarty unterscheidet anhand seiner Erfahrungen mit Erzählern aus unterschiedlichen Kulturkreisen die „hearthside tradition“ des Geschichtenerzählens, in der Geschichten innerhalb ihrer Gemeinschaften hauptsächlich zur Unterhaltung und zur Instruktion erzählt wurden und die „professional tradition“, in der die ihr angehörenden Erzähler ihren Lebensunterhalt mit ihrer Tätigkeit bestreiten. (Haggarty, 1996, S.6.) Sie erzählen meist neues, unbekanntes Material, oder sie erzählen bekannte Geschichten mit einem Höchstmaß an Können, wie z.B. Mythen, deren Komplexität und Detailtreue besondere Erzählfähigkeiten verlangt. (Haggarty, 1996, S.7) Obwohl Erzähler der professionellen Tradition kulturell sehr unterschiedliche Aufgaben und Fähigkeiten besitzen, lassen sich nach Haggarty doch wiederkehrende Momente erkennen. So erhalten alle professionellen Geschichtenerzähler eine sehr ausführliche Ausbildung. Sie lernen mindestens das gesamte Repertoire der „hearthside tradition“ ihrer Kultur, bevor sie ein zusätzliches Repertoire erlernen, das ihnen den Lebensunterhalt ermöglicht. In vielen Kulturen gibt es eine enge Verknüpfung zwischen professionellen Erzählern, Musikern und Heilern bzw. Priestern, was ihren hervorgehobenen Status innerhalb ihrer Gesellschaften bezeichnet. Der professionellen Tradition schreibt Haggarty auch die Schöpfung vieler Geschichten zu, wobei die Erzähler dieser Tradition nie völlig frei erfinden, sondern die Metaphorik und Symbolsprache ihrer jeweiligen Kultur einsetzen und variieren und durch diese auch zu einem gewissen Grad gebunden sind. Denn die Variationen müssen sich im Rahmen der Erwartungen des Publikums bewegen, können aber auf längere Sicht zu einem Wandel der Geschichten führen. Haggarty nennt dies das Harmonisieren und Synchronisieren von Geschichten. (Haggarty, 1996, S.22) Gute Erzähler, so führt er aus, sollten das Talent haben, Geschichten umzuarbeiten und ihnen neue Strukturen zu geben. Dabei benutzen sie je nach Situation und Material wohlüberlegte, präzise Sprache.

Doch Erzähler haben keinesfalls nur zur bloßen Unterhaltung erzählt. Es scheint vielmehr klar, dass Gesellschaften, die noch nicht über eine substantielle Verbreitung von Papier und Feder bzw. der Buchdruckkunst verfügten, Menschen benötigten, die ausdrücklich die Aufgabe hatten, das kollektive Wissen einer Gesellschaft zu erinnern und wiederzugeben. Dabei konnte es sich ebenso um genealogisches, historisches, theologisches und philosophisches Wissen handeln, wie um Rechtsregeln oder rituelle Verhaltensweisen. (Haggarty, 1996, S.9) Die Aufgabe muss dann auch darin bestanden haben, dieses Material in eine Form zu bringen, die erinnert und wiedergegeben werden konnte. Es zeigt sich, dass in Mythen als Erzählungen also nicht nur allegorische Begriffsarbeit geleistet wurde. Auch erzählen, überliefern, schöpfen, synchronisieren und harmonisieren sind selbst Techniken begrifflicher Arbeit.

Haggarty beschreibt die Tätigkeit des Erzählens weiterhin als interpretierende Improvisation (Haggarty, 1996, S.21), wobei Interpretation hier nicht als direkte Deutung aufzufassen ist, sondern als die Aufgabe, die Bedeutung des Gesagten gleichsam zu schärfen und zugänglich zu machen. Bei dieser Arbeit ist der Erzähler nicht vollständig autonom. Vielmehr steht seine Arbeit immer in Korrespondenz zu den konkreten Erfahrungen einer Gesellschaft und ihrer Mitglieder. Dadurch entwickelt sich ein gesellschaftlicher Schöpfungsprozess über Zeit. Gerade große Erzählungen und Mythen wie die Mahabharata, die Mabinogion, die Edda, die Torah, die Popul Vuh, die Odyssee und Ilias, Sundiatta, die Tain und Gilgamesh wurzeln alle in mündlichen Traditionen, in denen besondere Geschichten von unzähligen Menschen bewahrt und weiterentwickelt wurden. (Haggarty, 1996, S.9) Geschichtenerzählen wird damit zu einer Praxis, in der individuelle und kollektive Erfahrungen in den Kontext bestehender Überlieferungen, Bräuche und Vorstellungen eingearbeitet werden. Dies bezeugt auch die Erzähl- und Märchenforschung, die bestimmte Grundmotive in den Geschichten unterschiedlicher Kulturen in jeweils verschiedenen Kontexten wiederfindet, was als Indiz dafür gewertet werden kann, dass Erzähler fremde Geschichten immer in den Kontext ihrer eigenen Kultur übersetzt haben und so eine Vielfalt von Versionen zu den gleichen Motiven entstanden ist. (vgl. Thompson, 1955-1958) So schreibt Brisson, „(…) dass der Dichter der entscheidende Vermittler zwischen einer Gemeinschaft und den Deutungs- und Wertsystemen ist, denen sich diese Gemeinschaft verpflichtet fühlt. Kurz, durch den Mythos entwirft eine ganze Gemeinschaft ein Modell ihrer selbst“.  (Brisson, 1996, S.7) Dass Mythen vor allem soziale Funktionen ausüben, ist die essentielle These des Funktionalismus. Day schreibt über den Funktionalismus Durkheims: „Myth gives identity to a social group, binds together the members of a community, and carefully sets each group apart from others. Within myth are the fundamental structures and organization of society, and within myth are the cherished values of a society”. (Day, 1984, S.249) Mythen schaffen somit politische, soziale, moralische und psychologische Identität. (Day, 1984, S.249ff)

Wie aber wird diese identifizierende Wirkung erzielt? Wie muss das Verhältnis zwischen Erzähler und Publikum beschaffen sein, damit das Erzählen seine identifizierenden Funktionen ausführen kann? Heutige Erzähler sind sich einig darüber, dass es bei ihrer Kunst um Kommunikation und nicht um Vorführung geht. Das deutet darauf hin, dass ein besonders wichtiges Element des Erzählens das Publikum und dessen Fähigkeiten, Erwartungen und Beziehungen zum Erzähler und den Erzählungen sind – ein Aspekt, der in der ethnologischen Mythenforschung so gut wie überhaupt nicht beachtet wurde und der sich nicht anhand schriftlicher Dokumente analysieren lässt. Anders als bei modernen Medien ist es entscheidend für das Erzählen, wer mit welcher Haltung in welchem Umfeld zuhört. Die Präsenz potentiell handelnder, nachfragender und (un-)aufmerksamer Zuhörer, die einerseits die Grundstruktur vieler Geschichten schon kennen, also eine gewisse Bildung besitzen, und die andererseits über ein Repertoire an kulturellen Deutungsmustern verfügen und das Gehörte konstant in ein Verhältnis zu ihren eigenen Erfahrungen setzen, ist ein konstituierendes Moment des Erzählens selbst. Gleichzeitig nehmen die Hörer die Geschichten auf und tragen sie unter Umständen ihrem eigenen Verständnis entsprechend weiter. Benjamin merkt an, dass man während des Hörens einer Geschichte diese selbst weiterspinnt: „Je selbstvergessener der Lauschende, desto tiefer prägt sich ihm das Gehörte ein“. (Benjamin, 1961, S.417) Otto Ludwig schreibt in seinem Artikel Der Erzählerstandpunkt: „Der Hörer verspürt das Bedürfnis, das Gehörte weiterzusagen, und er wird ihm sehr oft eine neue, persönliche Note hinzufügen“. (Ludwig, 1983,S.21)

So ist keinesfalls das Publikum dem Erzähler generell ausgeliefert. Brisson konstatiert, dass auch der Erzähler von Mythen einer Zensur durch das Publikum unterworfen ist. „Denn im Gegensatz zur Schrift (…) impliziert der mündliche Vortrag eine Flexibilität, die im Gehalt wie in der Form eine langsame, aber stete Modifikation der Botschaft zulässt (…).“ (Brisson, 1996, S.8) Kritik am Mythos kann damit zwar nicht genauso zielgerichtet angebracht werden wie die an niedergeschriebenen Texten, doch die Erwartungen der Hörer setzen gleichzeitig einen Rahmen und einen Spielraum für Modifikationen. So sind sowohl in mündlichen als auch in schriftlichen Diskursen Mechanismen auszumachen, die Modifikationen durch Erwartungen und Erfahrungen gleichermaßen erlauben, ohne den Rahmen der kulturellen Situierung des jeweiligen Diskurses vollständig sprengen zu müssen, womit gleichzeitig eine gewisse Kontinuität des Diskurses gewährleistet bleibt. Die individuelle und soziale Identifizierung durch Mythen geschieht also weder durch einseitige Aneignung der Hörer noch durch Oktroyierung durch die Erzähler, sondern durch reziproke Teilhabe. Daher müssen wir das monodirektionale Sender-Empfängermodell, das vielen Vorurteilen Mythen gegenüber zugrunde liegt, durch ein Modell ersetzen, das die wechselseitige kommunikative Praxis des Erzählens, in der individuelle und kollektive Erfahrungen verarbeitet und einem gemeinsamen Verstehensprozess unterzogen werden, in den Vordergrund rückt. Unbestritten sind damit die Möglichkeit und das Risiko, dass diese kommunikative Praxis von einer Seite dominiert wird bzw., dass unterschiedliche Teilhaber am Diskurs ungleich verteilte Einflussmöglichkeiten haben. Doch Dominanz und Macht(missbrauch) ist dem Erzählen und seinen Inhalten nicht zwangsläufig immanent, wie es „dem Mythos“ vielfach vorgeworfen wird. Vielmehr beruht das Risiko von Herrschaft und Manipulation in den Intentionen derjenigen, die versuchen, diese kommunikative Praxis und damit den verbalen und nonverbalen Diskurs von Mythen einseitig zu dominieren und diese Dominanz langfristig zu institutionalisieren.

Ohne Zweifel sind gerade die sozialen und individuellen identitätsstiftenden Funktionen von Mythen besonders anfällig für Manipulation. Schon Platon kritisierte, so Brisson, dass der Erzähler versucht, eine Mimesis zu affizieren, mit der er Instanzen des Mythos eine Wirklichkeit zuweist, die Platon zufolge nur Abbild und Schein sein können. Wenn diese Mimesis gelingt, könnten die Empfänger einem Identifikationsvorgang mit den durch die Erzählung evozierten Wesen erliegen, woraus sich ein ethisches Problem ergibt. Denn das physische und moralische Verhalten des Hörers wird durch die vorgegaukelte Wirklichkeit eines Scheins in Mitleidenschaft gezogen. (Brisson, 1996, S.24f) Doch diese Gefahr erscheint mir nur plausibel, wenn einerseits die Erzähler diesen Identifikationsvorgang ohne das Einvernehmen der Hörer zur Manipulation evozieren wollen und wenn andererseits die Hörer dies mangels Bildung, das heißt in diesem Fall mangels ausreichender, Distanzierung erlaubender Kenntnis, auch zulassen. Denn einerseits kann es durchaus sein, dass die jeweilige Identifikation bewusst von den Hörern gewünscht wird bzw., dass sie sogar aktiv die Identifizierung mitevozieren, z.B. durch Tänze, das Nachahmen von Tierlauten, durch Fragen, Zwischenrufe und Mitgefühlsbekundungen etc., andererseits kennen die Hörer meist die Inhalte, Erzähltechniken und Metaphern und können sehr wohl den Erzähler und seine Fähigkeiten kritisch prüfen. Dass Platon vor allem den Schein und das Abbildhafte von Erzählungen kritisierte, ergibt sich wiederum aus seiner eigenen ontologischen Grundhaltung. Demgegenüber stehen die Auffassungen die jedoch gerade in dieser allegorisch-hermeneutischen Methode Erkenntnismöglichkeiten ausmachen, wie ich in Abschnitt I.1.2. gezeigt habe.

Die Kritik am Mythos im Zusammenhang von identifizierenden Funktionen und Manipulation wurde nicht nur von Platon formuliert. Jamme schreibt, dass in ähnlicher Weise während der Aufklärung die These des Priesterbetrugs gegen die Mythen ins Feld geführt wurde, welche diese als Werk machthungriger Priester sah. So hätte die Willkür der Dichter die griechische Religion unsystematisch gemacht und die Priester hätten, um ihre Autorität zu festigen, den Polytheismus, die Abgötterei und den Aberglauben durch den Mythos eingeführt. (Jamme, 1991a, S.18) Aber auch wenn dieser Vorwurf gegen die Mythen allgemein zielt, so verortet er deren Gefahr doch ursprünglich in der Intention der Priester. Mythologisches Denken nach der Romantik im Anschluss an Schlegels und Schellings Programm einer Neuen Mythologie entfaltete dann tatsächlich eine oft dunkle Wirkungsgeschichte. Jamme bemerkt:

„Erinnert sei nur an die Verabsolutierung der Poesie als Kunstreligion (z.B. im französischen Symbolismus), an die Renaissance des an der antiken Tragödie orientierten Weihfestspiels durch Richard Wagner und seine Nachfolger – bis hinein ins Arbeiterweihefestspiel und ins Thingspiel der Nationalsozialisten – und schließlich an die politischen Phantasien des Nietzscheschen „Staatengründer-Politikers“ (in dem sich Hitler bekanntlich wiedererkannte), an die deutsche „Nationalkirche“ von Paul de Lagarde und den >Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts< von Alfred Rosenberg.“ (Jamme, 1991a, S.41)

War diese Wirkungsgeschichte sicherlich nicht von Schlegel und Schelling intendiert, so weist sie auf ein wichtiges konzeptionelles Merkmal des Programms der Neuen Mythologie hin. So vertrat Schelling die Ansicht, dass die Neue Mythologie aus reiner Phantasieanstrengung von der Dichtung zu schaffen sei. Damit sollte sowohl die verlorene Einheit des Volkes restituiert als auch die Rückkehr aller Wissenschaft in den „Ozean der Poesie“ geleistet werden (Jamme, 1991a, S.27f): „Schelling definiert Mythologie als „das Ganze der Götterdichtungen, in dem sie zur vollkommenen Objektivität und unabhängigen poetischen Existenz gelangen“, als „nothwendige Bedingungen“ und „ersten Stoff aller Kunst“, als „das wahre Universum an sich“, als „absolute Poesie“.“ (Jamme, 1991a, S.39) Damit beginnt ein Denken, das vor allem in der Romantik stark wurde, und das die Kunstautonomie gegenüber der Allegorie immer stärker ins Zentrum rückte. Die Neue Mythologie wurde konzipiert als eine autonom-konstruktive schriftliche Praxis eines Philosophen oder Künstlers als Schöpfungssubjekt, das einen kulturerzieherischen Zweck verfolgt und mit seiner Arbeit die Identität von Natur und Geist wiederzuerlangen sucht. Eine solche Praxis beinhaltet kein reziprokes Moment zwischen Erzähler und Hörer oder individueller und kollektiver Erfahrung. Der reziproke Wandlungsprozess, wie er in mündlichen Traditionen unvermeidlich ist, wird eingetauscht gegen eine schriftliche Fixierung, die nunmehr als absolute Form Welt verstehen und deuten soll. Die mythologische Praxis der Neuen Mythologie zeigt sich damit als eine Praxis mit totalitärem Geltungsanspruch, insofern sie eine ungeteilte Identität der Welt postuliert und anstrebt. Dadurch wird jede Form von individuellem, sozialem und natürlichem Austausch im Sinne einer verstehenden Kommunikation und Teilhabe, die nicht auf dieser Ganzheitlichkeit und Identität basiert, ignoriert und unterbunden. Das Problem liegt also nicht so sehr in den konkreten Inhalten von Schlegels und Schellings Philosophie, als vielmehr in der Annahme, dass eine absolute Welt (bei Schelling, die der Identität von Geist und Natur) möglich und nötig sei. (Attac als Teil der Antiglobalisierungsbewegung wirbt gegen eine alles vereinnahmende neoliberale Weltsicht mit dem Slogan: „Eine andere Welt ist möglich“. Damit tut Attac konzeptionell das Gleiche wie ihre Gegner – nur mit anderen politischen Intentionen. Statt dessen müsste es heißen: Andere Welten sind möglich; oder noch besser: Andere Welten sind nötig.) Sind die üblichen Vorwürfe von Manipulation und Verblendung durch Mythen also in der Sache durchaus richtig, so sind sie doch Mythen nicht immanent, sondern resultieren zum einen aus den bewussten Intentionen derjenigen, die Mythen für ihre Zwecke missbrauchen und zum anderen aus den – vielleicht unbewussten – Versuchen die Wechselseitigkeit der kommunikativen Praxis von Mythen durch Ansprüche auf eine absolute Weltsicht zu vereinheitlichen und zu institutionalisieren.

Ich möchte noch einmal zusammenfassen: Ich habe versucht zu zeigen, dass der Mythos eine Begriffskonstruktion der abendländischen Philosophie ist. Als solche wird der Mythos als Pendant zur Naturwissenschaft noch von Interesse sein. Sie ist auch grundlegend, um die Vorstellung des Mythos als defizitäre oder zumindest weniger praktische Bewusstseinsform gegenüber Philosophie, Aufklärung oder Naturwissenschaft zu verstehen. Denn tatsächlich gibt es keinen objektiven Bezugsrahmen, der ein solches Urteil erlauben könnte, wie sich auch in den folgenden Kapiteln zeigen wird. Wenn uns jedoch Funktionen und Risiken interessieren, müssen wir zum Einen die Mythen in ihrer Vielfalt betrachten. Ein Blick in die vielfachen Formen, die Mythen annehmen können und die mannigfaltigen Inhalte, mit denen sie sich beschäftigen, legt nahe: Mythen sind Geschichten, die zentrale Aspekte individueller und kollektiver Erfahrungen thematisieren und in (z.T. allegorischer) Begriffsarbeit anhand unterschiedlichster Deutungsmuster dem Verstehen zugänglich machen. Die Erfahrung von Angst ist dabei sicherlich ein, aber nicht der einzige Aspekt. Zum Anderen müssen wir ganze Mythologien als Bestände von Mythen einer bestimmten Kultur betrachten. Sie basieren auf bestimmten ontologischen Grundhaltungen, verhandeln und konstituieren diese aber auch gleichzeitig durch die Reziprozität narrativer Tradition. Sie stiften damit politische, soziale, moralische und psychologische Identität, tradieren Wissen und bieten einen Rahmen normativer Handlungsanweisungen und Verhaltensmuster. Risiken ergeben sich daraus vor allem, wenn die Reziprozität zugunsten eines einseitigen Verhältnisses verhindert wird. (Während Platon den Dichtern generell auf ontologischer Basis misstraute, waren diese für Schelling – ebenfalls ontologisch begründet – generell die kulturstiftenden Subjekt. Beide Ansichten sind monodirektionale absolute Konzepte des Mythos (im Singular) und somit nicht deckungsgleich mit meiner Definition von Mythen und Mythologien. Werden Mythen solcherart  an die Idee eines negativ oder positiv konnotierten Mythos (im Singular) angepasst, können sich daraus tatsächlich totalitäre und absolutistische Systeme entwickeln. Die Totalität rührt dann aber aus der Ontologie und nicht aus den Mythen (im Plural) her.) Gerade dies ist die Gefahr derjenigen Konzepte, die starke Dualismen konstituieren, um damit den einen Pol gegenüber dem anderen zu erhöhen, oder beide Pole in einer absoluten Einheit versammeln zu wollen. Totalität ist damit nicht, wie zumeist angenommen, Wirkung des Mythos (oder der Naturwissenschaft / der Aufklärung etc.) sondern selbst schon Ursache.

Categories:

,

Tags:


2 Antworten zu “Naturwissenschaft und Mythos (III)”