Naturwissenschaft und Mythos (V)

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I.3.1. Methodologie der Naturwissenschaft
Ich möchte, um diese Fragen zu beantworten, zuerst einen Blick auf die methodologische Diskussion innerhalb der Naturwissenschaft werfen. Denn die Methodik der Naturwissenschaft ist die Stelle, an der sich die Naturwissenschaft ihre Konstitution gibt, in der sie ihren rationalen Anspruch begründet und an der sie das Verhältnis, in dem sie ihrem Objekt, der Natur, entgegentritt, bestimmt. Dieser Blick kann an dieser Stelle nicht die Ausführlichkeit annehmen, die dem Thema eigentlich gebührt. Er soll daher nur einige wichtige Hinweise für den Zusammenhang dieser Arbeit geben. Danach werde ich auf Thomas Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen eingehen, um zu sehen, wie weit diese Selbstbeschreibungen einer historischen Perspektive standhalten.

Es lohnt sich, an dieser Stelle in die Selbstbeschreibungen und Selbstrecht-fertigungen der Naturwissenschaft zu schauen. Um den Kontrast zu schärfen, möchte ich die Darstellung aus dem Buch Hypothese, Experiment, Theorie. Zum Selbstverständnis der Naturwissenschaft von Hansjörg Schneider zitieren. In diesem zwischen Positivismus und Realismus angesiedelten Werk, das eine große Nähe zum Schul- und Populärverständnis der Naturwissenschaft zeigt, führt er in so prägnanter und anschaulicher Weise dies Verständnis anhand einer Graphik und deren Beschreibung vor, dass ich sie hier übernehmen möchte. Schneider zeigt folgende Graphik und erläutert:

(Abbildung 1, Schneider, 1978, S.26)

„Der erste Schritt zur Erkenntnis ist die Wahrnehmung von Gegenständen und Tatsachen, den Einzelfällen von Sachverhalten. Sie hinterlassen averbale Erfahrungen, die durch die Erfindung von Wörtern und Zeichen benannt werden können. Größere Genauigkeit und Verständlichkeit (…) wird durch die Definition der Wörter mit anderen Wörtern erzielt. Der damit eingeleitete Prozess der Begriffsbildung ist nie abgeschlossen. (…) Mit Begriffen und Begriffskombinationen lässt sich Erfahrung sprachlich fixieren und in Protokollaussagen schriftlich niederlegen. In einem Prozess, der als Teil eines Mechanismus von Versuch und Irrtumsbeseitigung angesehen werden kann, der Induktion, wird nun sprachlich fixierte Erfahrung mit weiteren sprachlich fixierten Erfahrungen wechselseitig verknüpft, Tatsachen mit Tatsachen, mit Sachverhalten, mit bereits bekannten Messprozessen und Theorien oder diese untereinander. Die dadurch entstehende Hypothese erklärt die Wahrnehmung als Teil einer übergeordneten Gesetzmäßigkeit. Ein transempirischer Anteil der Hypothese wird in ihren Deduktionen, den abgeleiteten Daten deutlich, die noch nicht beobachtete Tatsachen durch die Anwendung von Denkregeln voraussagen. Sind die Ausgangsdaten, die schriftlich fixierten Erfahrungen richtig, sind es auch die abgeleiteten. Durch Beobachtungen, Messen und Experimentieren wird daraufhin versucht, die abgeleiteten Daten in die Realität umzusetzen. Jede dabei entstehende, dem Erkenntnisprozess neu zugeführte Tatsache wird wieder über Wort- und Begriffsbildung zur Protokollaussage, die mit den Aussagen der Hypothese und den abgeleiteten Daten verglichen wird. Der Vergleich vollzieht sich in der Dimension der Sprache, bis Identität der Formulierung festgestellt werden kann. (…) Sind Begriffe, abgeleitete und experimentelle Daten nicht in Einklang zu bringen, wird zu ihrer Verknüpfung eine neue Hypothese notwendig. Kann Einklang hergestellt werden, ist die Hypothese belegt und geht in eine Theorie gleichen Wortlauts über, aus der abgeleitete, experimentelle Daten und die ursprünglichen Tatsachen ableitbar sind. (…) Da die wachsende Erkenntnis Hand in Hand mit neuer Theoriebildung und Definition einhergeht, sind die ursprünglichsten Theorien zunächst in der Alltagssprache, dann in der Erläuterungssprache und schließlich in Fachsprachen und eventuell in theoretischer Sprache formuliert.“ (Schneider, 1978, S.27)

Bleibt noch hinzuzufügen, dass wir uns dieserart immer weiter der Realität annähern. Eine solche Darstellung wirft für Philosophen, Wissenschaftshistoriker und kritische Wissenschaftler an vielen Punkten eine Reihe von Fragen auf, die jede Stufe dieses Schemas betreffen. So wird in den Debatten um den Realismus z.B. die Frage aufgeworfen ob es tatsächlich von uns unabhängige Tatsachen und Sachver-halte gibt, die nur entdeckt zu werden brauchen. Selbst wenn es so wäre, hat nicht zuletzt der Positivismusstreit gezeigt, dass wir keine Beweise dafür finden können, dass wir tatsächlich einen direkten Zugang zu dieser angenommenen Realität haben. Die Heisenbergsche Unschärferelation ist wohl das bekannteste Beispiel um zu zeigen, dass Messen, Beobachten und Experimentieren nicht so neutrale Tätigkeiten sind, wie das Schneidersche Schema uns weismachen will. Auch die Begriffsbildung bei Schneider erscheint ein wenig verkürzt. Sie ist bei ihm ein Prozess, der immer mehr subjektive Muster beschneidet, um die Vieldeutigkeit der Umgangssprache zu vermeiden. (Schneider, 1978, S.23) Die Schrift, in der diese Begriffe eindeutig festgelegt werden, werde damit „zur Notwendigkeit für Wachstum und Kontinuität wissenschaftlicher Erfahrung“. (Schneider, 1978, S.21) Dass die Begriffs- und Theoriebildung jedoch auch von sozialen und persönlichen Strukturen beeinflusst ist und Begriffe oftmals so gewählt werden, dass sie mit vorhandenen Überzeugungen konsistent sind, habe ich mit Hübner an Einstein gezeigt, und wird mit Kuhn weiter verdeutlicht werden. (Es ist außerdem kaum zu übersehen, dass die Anforderung an Begriffe mit den vorhandenen Überzeugungen konsistent zu sein, ebenso mythische Begriffsarbeit betrifft wie naturwissenschaftliche. Was passiert, wenn diese Konsistenz nicht erreicht werden kann, werde ich mit Kuhn im Folgenden zeigen. Des weiteren ist noch einmal anzumerken, dass Begriffsarbeit nicht an die Schrift gebunden ist, sondern durchaus auch durch andere Symbolsysteme vermittelt werden kann.)

Besonders interessant an dieser Stelle sind aber vor allem die methodologischen Diskussionen um Deduktion und Induktion, die von Schneider als neutrale Werkzeuge des wissenschaftlichen Alltags vorgestellt werden. Denn genau sie sind es letztlich, die, der aufgeklärten Auffassung nach, den Kern der wissenschaftlichen Rationalität ausmachen und im Gegensatz zu Metapher und Allegorie von Kunst und Mythos konzipiert werden. Doch die Wissenschaftstheorie zeigt, dass es mit einer absoluten Beweiskraft dieser Schlussformen, die auf Aristoteles` Syllogismus zurückweisen, nicht weit her ist. Die Deduktion ist der Schluss vom Allgemeinen auf das Einzelne. Als Verfahren, vor allem der Mathematik, besitzt sie sicherlich innerhalb der wissenschaftlichen Rationalität den höchsten Stellenwert. Das bekannteste Beispiel für einen Schluss dieser Art lautet: „Alle Menschen sind sterblich“, „Sokrates ist ein Mensch“ daher muss gelten: „Sokrates ist sterblich“. Doch die Deduktion ist vor allem mit zwei Problemen konfrontiert: Zum Einen gibt es für sie keine Möglichkeit ihre Prämissen zu prüfen, sie müssen gesetzt werden. Die Aussagen „Alle Menschen sind sterblich“, und „Sokrates ist ein Mensch“ können nicht selbst (außer aus anderen gesetzten Prämissen) deduziert werden, sie basieren vielmehr auf Einzelbeobachtungen, deren Allgemeingültigkeit sich nicht beweisen lässt. Auch in der Logik und Mathematik sind diese Prämissen bzw. Axiome Festlegungen. Aussagen, die auf ihnen basieren, können durch Deduktion nur dann wahr sein, wenn die Wahrheit der Prämissen bzw. Axiome vorausgesetzt wird. Das zweite Problem betrifft die Gesetze, nach denen die Deduktion ausgeführt wird. Sowohl in der Logik und in der Mathematik als auch in anderen wissenschaftlichen (Teil-) Bereichen, wie z.B. der euklidischen Geometrie, gibt es Regeln, wie deduktive Schlüsse durchzuführen sind. Auch diese Regeln sind Festsetzungen, die in Korrespondenz zu ontologischen Grundauffassungen stehen und daher selbst nicht bewiesen werden können. In der Logik ließe sich hier vor allem der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, in der euklidischen Geometrie die Aussage, dass sich zwei Parallelen in der Unendlichkeit nicht schneiden, aufführen. Diese Aussagen liegen der operationalen Verarbeitung innerhalb der Schlussschemata zugrunde, sind aber selbst weder zu beweisen noch zu widerlegen. Wessel schreibt: „Die genannten logischen Gesetze können gerade deshalb nicht durch Erfahrung widerlegt werden, weil sie eben keine echten Aussagen über die Realität sind. Sie haben nur die Form von Aussagen über die Welt, sind aber wahr allein auf Grund der Eigenschaften der in ihnen vorkommenden logischen Operatoren und liefern uns deshalb auch keine Informationen über die nichtsprachliche Außenwelt“. (Wessel, 1998 S.15) Die Deduktion kann also nur innerhalb des jeweiligen Regelsystems, das immer ein sprachlich-mathematisches und damit ein begriffliches ist, wahre Aussagen treffen. Dieses Regelsystem wird aber, zugestandenermaßen in Bezug auf Beobachtungen und Erfahrungen des Einzelnen, gesetzt.

Das Problem der Induktion ist noch offensichtlicher. Induktion beschreibt den Vorgang, bei dem von einer begrenzten Zahl von Einzelbeobachtungen auf das Allgemeine geschlossen wird. Das heißt, wenn wir jeden Morgen den Sonnenaufgang beobachten, schließen wir daraus, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht. Wenn wir nur weiße Schwäne sehen, schließen wir, dass alle Schwäne weiß sind. Während das erste Beispiel noch Zustimmung finden könnte, sehen wir im zweiten Beispiel von Karl Popper das Problem der Induktion deutlich, denn es gibt auch schwarze Schwäne, selbst wenn einzelne Menschen vielleicht ihr ganzes Leben lang keinen sehen. Und auch wenn es jetzt keine schwarzen Schwäne gäbe, wer wollte beschwören, dass es in Zukunft keine geben wird? Doch beruhen die Experimente der Wissenschaft, bei denen eine Reihe von einheitlichen Messergebnissen unter Laborbedingungen zu Annahmen allgemeiner Gesetzmäßigkeiten führt, nicht auf der Induktion? Nach Papineau versuchte Karl Popper das Problem, das sich damit für die Beweislage der Naturwissenschaften ergibt, damit zu lösen, dass er davon ausging, dass die Naturwissenschaften nicht mit der Beobachtung von Tatsachen beginnen, sondern mit einer generellen Theorie, deren Voraussagen dann mittels Experiment geprüft werden. Daraus ergibt sich, dass Theorien nicht verifiziert, sondern nur falsifiziert werden können. Wenn die Beobachtungen nicht mit den Voraussagen übereinstimmen, muss die Theorie laut Popper überarbeitet werden. Wenn die Beobachtungen jedoch mit der Theorie übereinstimmen, bleibt die Theorie in Gebrauch, auch wenn sie nicht bewiesen ist. Auf diese Weise ist die Wissenschaft nicht auf die Induktion angewiesen, denn nun braucht sie nur deduktiv zu schließen, dass, wenn wir sehen, dass eine Einzelbeobachtung nicht auf ein Kriterium zutrifft, damit geschlossen werden kann, dass dieses Kriterium nicht Allgemeingültigkeit besitzt. Gegen den Vorwurf, dass Wissenschaft solchermaßen aufgefasst nur ein Ratespiel ist, das auf den Überzeugungen der Wissenschaftler beruht, entgegnet Popper, dass die Wissenschaft immerhin falsifizierbar und damit präzise ist. Sie setzt sich ihm zufolge somit von bloßen Meinungs- und Glaubensäußerungen ab.

Vergleichen wir nun die Methoden der Deduktion und Induktion mit der Allegorie um zu sehen, warum der wissenschaftlichen Rationalität, die auf ersterer beruht, ein anderer Erkenntniswert zugemessen wird als Mythos und Kunst, die hermeneutisch, also analogisierend, allegorisch, deutend arbeiten. Wir haben gesehen, dass ausnahmslos alle Methoden nicht ohne ontologische Setzungen auskommen. Die Deduktion braucht diese sowohl für ihre operative Regelstruktur als auch für ihre inhaltlichen Prämissen. Die Induktion führt nirgendwohin, wenn sie nicht verbunden wird mit theoretischen Voraussetzungen. Ihre Stellung innerhalb der Naturwissenschaft bleibt auch nach Popper umstritten. Die Allegorie benötigt gleichsam eine symbolische Matrize, auf die sich ihre konkreten Aussagen beziehen können. Auch diese Matrize ist eine Setzung. So stellt sich der Zusammenhang zumindest dar, wenn wir die Frage nach dem Huhn oder dem Ei stellen: War die ontologische Setzung zuerst da, oder die konkrete Erfahrung? Wir können allerdings auch versuchen, wie ich es bei der Allegorie schon getan habe, diese Methoden als wechselseitige Prozesse zu betrachten, die Begriffsfindung, Beobachtung und ontologische Setzungen miteinander verbinden, um der Welt Bedeutung zu geben und damit Handlungsoptionen zu erschließen. Allerdings sind die ontologischen Voraussetzungen der Naturwissenschaft stärker darauf ausgerichtet, Subjekt und Objekt voneinander zu trennen. Auf diese Weise lassen sich die Methoden viel eindeutiger operationalisieren. Anders als bei der Allegorie setzen sie sich eindeutige Regeln, die auf der operativen Ebene ihrer Sprachen eine Exaktheit fordern, die die Allegorie nicht hat, aber auch nicht benötigt, um die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen. Wie sieht es nun aber mit der Kumulation von Wissen aus, die einzig die Naturwissenschaft für sich in Anspruch nimmt?