Naturwissenschaft und Mythos (V)

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I.3.2. Naturwissenschaftsgeschichte
Die Arbeit der Naturwissenschaft, wie ich sie bisher besprochen habe, ist ein kontinuierliches kumulatives Unterfangen. Bei den Griechen begonnen und richtig etabliert während der Aufklärung, beschreibt sie eine fortschreitende, aufeinander aufbauende Entwicklung, die zu einer Zunahme und Vertiefung unseres Wissens über die Welt führt. Dabei werden Theorien, die sich als falsch erweisen, durch neue, bessere ersetzt und sich widersprechende Theorien nach und nach zusammengeführt. Ich habe im Abschnitt über Teleologien schon die generelle Problematik einer solchen Sicht aufgezeigt. Wie sieht dies aber konkret in Bezug auf die Naturwissenschaft aus?

Thomas Kuhn hat diese Sicht einer fortschreitenden Naturwissenschaft in seinem Essay Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen aus wissenschaftshistorischer Perspektive beleuchtet und verworfen. Seiner Auffassung nach ist die Naturwissenschaft keineswegs eine kontinuierliche und kumulative Praxis. Vielmehr zeichnet sie sich dadurch aus, dass es innerhalb der Geschichte der Naturwissenschaft zu revolutionären Paradigmenwechseln gekommen ist. Dabei sind Grundüberzeugungen, -begriffe und –techniken vorheriger naturwissenschaftlicher Arbeit grundsätzlich umgeworfen worden, um neue Begriffe, Überzeugungen und Techniken einsetzen zu können. Ein solches Ensemble von wissenschaftlichen Begriffen, Überzeugungen und Techniken nennt Kuhn ein Paradigma. Es entsteht meist auf der Basis wichtiger Grundlagenwerke von Einzelwissenschaften, die ihr eigenes Fachgebiet damit umreißen, indem sie es gegen andere Fachgebiete abgrenzen und einen Rahmen für die spezifischen Fragen anbieten, die innerhalb der jeweiligen Disziplin von Interesse sind. Auch der Weg, auf dem diese Fragen beantwortet werden können, wird in diesen Werken konzeptionell vorgezeichnet. Solche Werke begründen damit entweder ein erstes Paradigma für ihre neu entstehende Wissenschaft (Kuhn nennt u.a. die Physik von Aristoteles, Newtons Principia und Optics, Franklins Electricity und Lavoisiers Chimie) (Kuhn, 1967, S.25) oder sie bieten ein neues Paradigma für eine schon bestehende Disziplin an und führen damit einen Paradigmenwechsel herbei. Kuhn schreibt: „[er (der Autor – JR) konnte] relativ frei bestätigende Beobachtungen und Experimente wählen, denn es gab keine Standardreihe von Methoden oder Phänomenen, die anzuwenden bzw. zu erklären sich jeder Autor gezwungen fühlte. Unter diesen Umständen waren die entstehenden Bücher oft ein Dialog mit den Mitgliedern anderer Schulen wie mit der Natur“. (Kuhn, 1967, S.28) Studierende der Wissenschaft, die diese grundlegenden Werke lesen, bereiten sich damit auf die Mitgliedschaft in einer scientific community vor, innerhalb derer es wenig Streit über eben diese Grundprinzipien gibt, da sie ja durch die gleichen Werke die Grundlagen ihrer Wissenschaft erlernt haben. (Kuhn, 1967, S.26) Ein weiterer Vorteil eines Paradigmas ist es, dass die Forscher sich nun nicht mehr mit den Grundlagendefinitionen ihrer Wissenschaft abgeben müssen, sondern detailliert an Teilbereichen arbeiten können. Ich möchte hier zwei Aspekte hervorheben: zum Einen charakterisiert Kuhn die Arbeit am Paradigma selbst unter anderem als Dialog mit der Natur. Dies wird im zweiten Teil dieser Arbeit von Bedeutung sein. Zum Anderen möchte ich daran erinnern, dass wir bei Haggarty gesehen haben, dass professionelle Geschichtenerzähler das gesamte herkömmliche Repertoire ihrer Kultur lernen (der „hearthside tradition“), bevor sie einerseits komplexere und detailliertere Erzählungen erlernen und andererseits selbst Geschichten in der Metaphorik, Symbolsprache und damit auf Grundlage der Ontologie ihrer jeweiligen Kultur schöpfen. Ist die konkrete Arbeit von Wissenschaftlern und Geschichtenerzählern auch verschieden, so ist die Struktur der professionellen Sozialisierung innerhalb eines Paradigmas sich sehr ähnlich.

Die Arbeit innerhalb des Rahmens eines Paradigmas nennt Kuhn normale Wissenschaft. Die normale Wissenschaft besteht in der Verwirklichung einer „Verheißung von Erfolg, die in ausgesuchten und noch unvollständigen Beispielen liegt“. (Kuhn, 1967, S.38) Kuhn nennt die Arbeit der normalen Wissenschaft daher auch Aufräumarbeit: die unklaren Begriffe und Konstanten eines Paradigmas werden durch diese Arbeit gesäubert und konkretisiert, Lücken gefüllt. „In keiner Weise ist es das Ziel der normalen Wissenschaft, neue Phänomene zu finden; und tatsächlich werden die nicht in die Schublade (des Paradigmas – JR) hineinpassenden oft überhaupt nicht gesehen.“ (Kuhn, 1967, S.38) Im Gegenteil: starke Abweichungen von erwarteten Ergebnissen gelten vielmehr als Misserfolge, da sie das Fundament des Paradigmas in Frage stellen. (Kuhn, 1967, S.50) Wird doch einmal ein unerwartetes Ergebnis erzielt und werden Fakten gefunden, die nicht in das Paradigma passen – Kuhn spricht von Anomalien – dann kann, treten diese zunehmend gehäuft auf, sodass eine Krise entsteht, eine neue Theorie daraus entstehen, die ein neues Paradigma begründet.

Eine solche Phase bezeichnet Kuhn als wissenschaftliche Revolution und daher als nichtkumulative Entwicklungsepisode, in der ein älteres Paradigma durch ein neueres ersetzt wird. (Kuhn, 1967, S.104) Die wissenschaftliche Gemeinschaft glaubt in diesem Fall nicht mehr daran, dass ein existierendes Paradigma bei der Erforschung eines Aspekts der Natur in adäquater Weise funktioniert. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist der Widerspruch zwischen der Newtonschen Dynamik wie in der Principia beschrieben und der relativistischen Dynamik Einsteins. Kuhns Argument lautet folgendermaßen: Einsteins Theorie kann nicht gezeigt haben, dass Newtons Theorie falsch gewesen ist, denn sie wird immer noch mit Erfolg angewendet. Es kann sogar mit Einsteins Theorie gezeigt werden, dass Newtons Theorie unter eingeschränkten Bedingungen tatsächlich richtige Resultate hervorbringt. Aber wird dadurch die Newtonsche Theorie zu einem Teilbereich, einem Spezialfall der relativistischen Dynamik? Können also letztlich Vorläufertheorien aus Theorien „höherer Ordnung“ abgeleitet werden? Nach Kuhn ist zwar manchmal eine Ableitung theoretisch insofern möglich, dass aus der höheren Theorie Teilbereiche deduziert werden können, die den Gesetzen, Anwendungsbereichen und Voraussagemöglichkeiten der Vorläufertheorie weitgehend entsprechen, doch dies geht nur, wenn die Begriffe der Vorläufertheorie nach dem neuen Paradigma uminterpretiert werden. So stellen, würde man versuchen, Newtons Theorie aus der Einsteinschen abzuleiten, die Begriffe „räumliche Lage“, „Zeit“ und „Masse“ immer noch Einsteins Raum, Zeit und Masse dar, die keinesfalls mit den gleichnamigen Newtonschen Begriffen vergleichbar sind (So bleibt die Newtonsche Masse erhalten, während sich die Einsteinsche Masse in Energie umwandeln kann). (Kuhn, 1967, S.111ff) Letztlich gibt es keinen gleichen Begriffsrahmen, der die beiden Theorien wirklich zueinander in ein abgeleitetes oder aufeinander aufbauendes Verhältnis setzt, was auch für Anwendungsbereiche sowie die Fragen, die innerhalb eines Paradigmas von Interesse sind, gilt. Kuhn, der dies als den institutionellen Rahmen für eine gemeinsame Auseinandersetzung bezeichnet, zieht daher den Schluss, dass analog zu einer politischen Revolution, in der ebenfalls kein kontinuierlicher institutioneller Rahmen erhalten bleibt, man von wissenschaftlichen Revolutionen sprechen kann (Kuhn, 1967, S.105):

„Derjenige, der ein Paradigma voraussetzt, wenn er es verteidigt, kann trotzdem eine klare Darstellung davon geben, wie die wissenschaftliche Praxis für jene aussehen wird, welche die neue Naturanschauung annehmen. Diese Darstellung kann sehr überzeugend sein, oft sogar zwingend. Und doch, wie stark sie auch sein mag, dieses im Kreis gehende Argument hat nur den Status eines Überredungsversuches. Es kann nicht logisch oder auch nur probabilistisch zwingend gemacht werden für jene, die sich weigern in diesen Kreis einzutreten. Die den beiden Parteien in der Diskussion über ihre Paradigmata gemeinsamen Prämissen und Werte sind dafür nicht ausreichend.“ (Kuhn, 1967, S.106)

Wissenschaftliche Lehrbücher verdecken Kuhn zufolge diese Revolutionen aber aus guten, meist unbeabsichtigten oder aber triftigen Gründen, denn sie müssen den neuen Mitgliedern einer Disziplin das Vokabular und die Syntax einer aktuellen wissenschaftlichen Sprache vermitteln und diese nicht zu Spekulationen über die Grundlagen ihrer Wissenschaft animieren. (Kuhn, 1967, S.147) Diese Sprache richtet sich natürlich am neuen Paradigma aus. Kuhn führt aus: „Es ist also nicht verwunderlich, dass Lehrbücher und die von ihnen unterstellte geschichtliche Tradition nach jeder Revolution neu geschrieben werden müssen. Und es ist  auch kein Wunder, dass, da sie tatsächlich neu geschrieben werden, die Wissenschaft wiederum weitgehend kumulativ erscheint. (…) Die Versuchung die Geschichte rückwärts zu schreiben, ist allgegenwärtig und dauerhaft“. (Kuhn, 1967, S.149) Er fügt hinzu, dass es bei Revolutionen unsinnig ist anzunehmen, die siegende Gruppe würde ihren Sieg nicht als Fortschritt verkaufen. (Kuhn, 1967, S.178)