Die Qualität ohne Namen

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Christopher Alexander und die Gestaltung lebendiger Lebensräume mit Mustersprachen

Veröffentlicht in Hagia Chora 29, 2008

Es gibt Dinge, in die muss man erst hineinwachsen. Am Anfang ist da nicht mehr als eine leise Ahnung: ein Schimmer, dass einem etwas von Bedeutung begegnet ist. Man beginnt die Sache zu umkreisen und den Geschmack der Begriffe, die mit ihr zusammenhängen, im Gaumen zu wälzen. Man beginnt leise zu forschen und innerlich zu fragen. Man wartet gedämpft gespannt auf die Ereignisse und Zeichen, die einem sagen: Hier liegt etwas für Dich verborgen, hier gilt es einen Schatz zu heben und doch bleibt einem der Zugang vorerst versperrt, scheinen sich andere Dinge dazwischen zu drängen. Erst allmählich verdichten sich die Anzeichen, fügen sich die Begegnungen und es werden Muster erkennbar, die einem die Richtung und den Weg weisen und plötzlich steckt man mittendrin, so als würden sich die vielen einzelnen Indizien zu einem dicken Knoten verdichten, zu einem Gravitationszentrum, um das immer mehr Bedeutungen und Vorkommnisse kreisen.

Mit der Theorie der Mustersprachen von Christopher Alexander ging es mir genau so. Das Wort Mustersprache übte von dem Moment, da ich es hörte, eine magische Anziehung auf mich aus. Ich lebte damals in London und begann mich mit der nachhaltigen Gestaltung von Lebensräumen durch Permakultur zu beschäftigen. Christopher Alexander galt als Geheimtipp. Sein Buch: „A Pattern Language“ wurde mit Ehrfurcht, vielleicht auch wegen des hohen Preises, weitergereicht. Es bestand aus einer Sammlung von 253 Mustern: Beschreibungen von Elementen, durch deren Kombination es möglich wäre, eine harmonische, lebendige Stadt zu gestalten. Zumindest entsprach das damals meinem Verständnis. Wie genau dies mit dem Buch zu bewerkstelligen sei, erschloss sich mir damals noch nicht deutlich. Das Buch war schwer zugänglich und beinhaltete keine Handlungsanweisungen, daher blieb es für mich lange Zeit ein wundersames Kompendium, dessen Worte ich zwar verstand, dessen Magie ich ahnte aber dessen konkrete Anwendung sich mir wieder und wieder entzog.

Mich beschäftigte damals die Frage, wie es möglich sei, Orte zu gestalten, in denen Mensch und Natur harmonisch koexistieren, ja sich sogar gegenseitig unterstützen könnten. Der Ansatz der Permakultur ging in erster Linie über das Verständnis komplexer Ökosysteme. Gelänge es uns in unseren Gestaltungen diese Ökosysteme nachzuempfinden, so wäre es möglich, Biotope zu schaffen, in denen der Mensch ein Teil des Systems ist. Um Ökosysteme, und damit die Natur, zu verstehen, werden vor allem Beobachtungs- und Analysemethoden angewandt. Die Beobachtung natürlicher Muster und das Verständnis ihrer Funktionen unterstützten es, analog eigene Systeme zu gestalten, in denen Menschen nachhaltig leben konnten. Ein Beispiel ist die Beobachtung von natürlichen Spiralformen. Diese Form inspirierte Bill Mollison, den Begründer der Permakultur unter anderem zum Design der Kräuterspirale wie wir sie heute kennen. Diese Analogisierung natürlicher Formen auf ein funktionales Design ist sehr eingängig und leicht zu verstehen.

Wenn Christopher Alexander jedoch von Mustern sprach, meinte er offensichtlich etwas anderes als diese eindeutig zu beobachtenden Formen in der Natur. Seine Muster betrafen Stadtformen und –strukturen, Gebäude und Konstruktionsdetails. Sie beinhalteten immer eine räumliche Komponente in Verbindung mit der Nutzung durch Menschen. Christopher Alexander ist Architekt und Stadtplaner und lehrte bis vor kurzem als Professor an der University of California in Berkeley in dem von ihm gegründeten Center for Environmental Structure. Als Architekt hat er viele Bauvorhaben gestaltet und durchgeführt. Alexander war aber auch immer schon Philosoph. Es genügte ihm nicht einfach nur zu bauen oder eine ästhetisch schöne und funktional praktische Architektur zu produzieren. Sein Fragen schürfte tiefer.

Alexander hatte früh schon eine leise Ahnung gehabt, einen Schimmer, dass ihm in seinen Beobachtungen etwas von Bedeutung begegnet war. Er hatte wahrgenommen, dass es Orte gab, die von einer besonderen Qualität erfüllt waren, die er aber schwer fassen und noch schwerer erklären konnte. Er wusste aus seiner Beobachtungen: es gibt Orte, Städte und Gebäude, die von einem inneren Feuer erfasst sind, die lebendig sind und doch voll innerer Ruhe, die funktional und doch von einfacher Schönheit sind, die in einem Menschen Gefühle berühren, die man sonst nur von Naturerfahrungen her kennt. Alexander nannte diese Qualität eine „subtile Art von Freiheit vor inneren Widersprüchen“. Er versuchte sie zu umschreiben mit Begriffen wie: lebendig, ganz, frei, egolos, ewig, doch kein Begriff schien ihm die Tiefe, Vielschichtigkeit und einfache Klarheit der Qualität zu treffen. Er schrieb: „Es gibt eine zentrale Qualität, die das fundamentale Kriterium für das Leben und den Geist eines Menschen, einer Stadt, eines Gebäudes oder der Wildnis ist. Diese Qualität ist objektiv und präzise, aber sie kann nicht benannt werden (TWB S.ix).”∗

Alexander nannte diese Qualität ‚die Qualität ohne Namen’, begann zu forschen und zu fragen. Er wusste, dass es hier einen Schatz für ihn zu heben galt und so machte er sich auf die Suche. Er versuchte die Qualität mit Fotos einzufangen, sie zu beschreiben und zu erklären. Ich selbst begriff die Wichtigkeit dieser Qualität für Alexanders Mustersprachentheorie erst, nachdem ich wieder einmal irritiert und fragend in seinem Buch A Pattern Language (Eine Mustersprache) gelesen hatte. Dies ist das Buch, das Alexanders eigene Mustersprache beinhaltet. Nachdem ich mehrere Jahre versucht hatte, aus Alexanders Mustern ein eigenes Verständnis zu entwickeln, wurde ich eines Tages in der Einleitung fündig: hier las ich, dass das Buch, das ich in Händen hielt, ausschließlich Alexanders eigene Mustersprache darstellt, nicht jedoch die Theorie darüber, wie Mustersprachen funktionieren, wie man sie entwickelt und wie man mit ihnen gestalten kann. Diese Fragen werden in dem Band: The Timeless Way of Building (Die zeitlose Kunst zu Bauen) behandelt. In diesem Buch wird der Leser von der ersten Seite an mit der ‚Qualität ohne Namen’ konfrontiert, denn sie ist es, die im Zentrum dessen steht, was Alexander als Architekt, und, wie sich in diesem Buch zeigt, auch als Mensch, erreichen möchte.

Mir wurde die Qualität ohne Namen, nachdem ich länger versucht hatte sie beobachtend zu umkreisen, schlagartig beim Lesen der einleitenden Passage aus Effi Briest von Theodor Fontane bewusst, in der Fontane fast filmisch den Ort der kindlichen Unschuld Effi Briests beschreibt: „In Front des schon seit Kurfürst Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung und Lage genau dem Seitenflügel entsprechend, lief eine ganz in kleinblättrigem Efeu stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen, weißgestrichenen Eisentür unterbrochene Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit seinem blitzenden, weil neuerdings erst wieder vergoldetem Wetterhahn aufragte. Fronthaus, Seitenflügel und Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschließendes Hufeisen, an dessen offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und angeketteltem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren horizontal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei Stricken hing – die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend. Zwischen Teich und Rondell aber und die Schaukel halb versteckend standen ein paar mächtige alte Platanen.“

Fontane gelingt es durch die Beschreibung eines Ortes mit seinen Elementen und den sich daraus eröffnenden Potentialen eine Atmosphäre einzufangen, die für mich die ‚Qualität ohne Namen’ widerspiegelt. Die Beschreibung veranschaulicht aber auch den nächsten Gedankenschritt Christopher Alexanders. Denn Alexander beobachtete, dass jeder Ort seinen Charakter durch wiederkehrende Muster von Vorkommnissen∗ erhält, die an den Orten stattfinden: ein Marktplatz lebt von den Standbesitzern, die früh morgens ihre Waren in den Ständen auslegen, von den Pärchen, die küssend auf den Bänken am Rande des Platzes sitzen, von den Cafés, die bei Sonnenschein ihre Stühle und Tische auf den Platz stellen. Ein Hauseingang lebt von der Katze, die in der Nachmittagssonne auf der Schwelle döst, vom Postboten, der sich unter dem Vordach den Erhalt eines Paketes quittieren lässt aber auch von Mustern, die nicht menschliche Situationen beschreiben: vom Duft des Flieders, vom Efeu, der sich um den Vordachpfosten rankt und dem Knarren des Baumes im Wind, der neben dem Hauseingang steht. All diese Muster sind nach Alexander nicht bloße, sich zufällig wiederholende Vorkommnisse, sondern sie bilden überhaupt erst die Gestalt eines Ortes, also die Konfiguration, die dem Ort seine spezifische Art und Weise zu Sein ermöglicht. Der Raum wird dadurch zu einer Matrix für die Muster, die in ihm zum Leben kommen, indem sie an Orten teilhaben. Alexander schreibt: „Und in der Tat hat die Welt eine Struktur, eben weil diese sich wiederholenden Muster von Vorkommnissen immer im Raum verankert sind.“ (TWB S.69)

Es gibt also einen engen Zusammenhang zwischen der räumlichen Konfiguration eines Ortes und den Vorkommnissen, die in dieser Konfiguration entstehen und sie gleichzeitig prägen. Einige Vorkommnisse scheinen geradezu notwendig zu bestimmten Orten zu gehören. Sie fügen sich so zwanglos und selbstverständlich in die Gestalt des Ortes ein, dass der Ort und die ihn konstituierenden Muster ineinander verschwimmen. Noch einmal Effi Briest:

„Auch die Front des Herrenhauses – eine mit Aloekübeln und ein paar Gartenstühlen besetzte Rampe – gewährte bei bewölktem Himmel einen angenehmen Aufenthalt; an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz entschieden bevorzugt, besonders von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute wieder auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange saßen, in ihrem Rücken ein paar offene, von wildem Wein umrankte Fenster, neben sich eine vorspringende kleine Treppe, deren vier Steinstufen vom Garten aus in das Hochparterre des Seitenflügels hinaufführten. Beide, Mutter und Tochter, waren fleißig bei der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten zusammenzusetzenden Altarteppichs galt; ungezählte Wollsträhnen und Seidendocken lagen auf einem großen, runden Tisch bunt durcheinander, dazwischen, noch vom Lunch her, ein paar Dessertteller und eine mit großen, schönen Stachelbeeren gefüllte Majolikaschale.“

Der Fliesengang in seiner Zusammensetzung aus Schatten, Fenstern, dem Wein, Treppe und angrenzendem Garten, sowie die Handarbeit von Mutter und Tochter und daneben das Stillleben aus Wollsträhnen, Seidendocken, Desserttellern und Obstschale bilden eine selbstverständliche, in sich ruhende Harmonie, die nach Alexander die Qualität ohne Namen besitzt, weil dieser Ort durch die ihn prägenden Muster eine sich selbst erfüllende Bestimmung erhält.

Das Ensemble der Muster ist es nach Alexander, durch das die ‚Qualität ohne Namen’ entstehen kann, wenn es zur Lebendigkeit des Ortes beiträgt: „Die spezifischen Muster aus denen ein Gebäude oder eine Stadt gemacht sind, mögen tot oder lebendig sein. Zu dem Grad, zu dem sie lebendig sind, lassen sie innere Kräfte frei, die wiederum uns befreien, aber wenn sie tot sind, sperren sie uns ein in innere Konflikte. Je mehr lebendige Muster an einem Ort sind – einem Raum, einem Gebäude oder einer Stadt – desto lebendiger wird er als Gesamtheit, desto stärker beginnt er zu leuchten, desto stärker brennt in ihm dieses selbsterhaltende Feuer, das die Qualität ohne Namen ist. Und wenn ein Gebäude dieses Feuer hat, dann wird es ein Teil der Natur. Wie Ozeanwellen, oder Grashalme werden seine Teile regiert durch das endlose Spiel von Wiederholung und Vielfalt, geschöpft aus der Gegenwart der Einsicht, dass alle Dinge vergehen. Dies ist die Qualität selbst (TWB S.xf).”