Naturwissenschaft und Mythos (VI)

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Ebenso, wie später Blumenberg und Habermas, gingen Horkheimer und Adorno davon aus, dass der Mensch in einer ständigen Urangst vor der Natur lebt. Schon der Mythos hat ihnen zufolge versucht, diese Angst zu nehmen. Jamme zeigt, dass Adorno und Horkheimer diesen Zusammenhang von Naturreligion und Furcht sowohl aus Hegels Interpretation der primitiven Religionen als auch aus Rudolf Ottos Theorie des Heiligen ableiten konnten. Auch die Deutung der Odyssee in der Dialektik der Aufklärung steht in einer Tradition, die Odysseus als Eroberer sieht und dabei diejenigen Stellen, in denen eine Harmonie zwischen innerer und äußerer Natur beschrieben wird, ignoriert.[4] Der Mythos vermag die Angstbewältigung jedoch nur bedingt durch einen von Horkheimer und Adorno angenommenen totalitären Deutungszusammenhang zu bewerkstelligen. Mensch und Natur müssen sich in den Mythos fügen, der dem Einzelnen keine Optionen gegenüber den Göttern und Schicksalsmächten des Mythos gibt. Erst der rationale Verstand kann den Menschen aus diesem totalitären Naturzusammenhang befreien. In dieser Hinsicht verstanden sich Horkheimer und Adorno als Anwälte der Aufklärung, deren Arbeit es war, die Welt zu entmythologisieren. Die Vernunft ist also ursprünglich angetreten, die Welt von Wahn, Mythos, Aberglauben und Zauberei zu befreien und den Menschen Mittel an die Hand zu geben, den Naturzwang zu brechen. „Seit je hat die Aufklärung im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“[5] Denn: „Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. (…) Nur solches Denken ist hart genug die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut“.[6] Als Instrument der Angstbe-wältigung und Herrschaft über die Natur fordert die Vernunft nach Horkheimer und Adorno allerdings auch die Unterwerfung der inneren Natur des Menschen und die Herrschaft über sie selbst. Die Anerkennung der Macht als Prinzip aller Beziehungen ist somit der Preis dafür, dass sich die Menschen als selbstbestimmte Subjekte konstituieren können. Aufklärung geht daher einher mit Totalität.[7] „Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben.“[8] Diese Naturherrschaft setzt sich durch und integriert im folgenden alles Soziale und Innermenschliche. So besteht für Horkheimer und Adorno ein deutlicher Zusammenhang zwischen Natur und Gesellschaft. Natur wird dabei in abendländischer Tradition gedacht, als ein objektives Regelgefüge kausaler Vorgänge. Solchermaßen steht sie der Freiheit des rationalen Verstandes gegenüber. Die Natur übt einen Zwang aus, von dem sich der Mensch nur mittels seines Verstandes befreien kann, was ihn gleichsam erst zum freien Subjekt macht. Die Gesellschaft hatte, zumindest historisch nach der Aufklärung, eigentlich ein Zusammenschluss dieser freien Subjekte sein wollen und damit zu einem Freiraum gegenüber der Natur werden sollen. Adorno und Horkheimer stellen jedoch dialektisch fest: „Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße Natur verwandelt“.[9] Denn die instrumentelle Vernunft, die zur Überwindung des Naturzwangs eingesetzt wird, fordert Kontrolle und Organisation sowohl vom Individuum (durch Unterdrückung von Triebstrukturen) als auch von der Gesellschaft (durch Produktionszwang und Arbeit). Gesellschaft wird damit zu einer „zweiten Natur“, in der Zwänge herrschen, die der in ihr waltenden instrumentellen Vernunft immanent sind. Dabei kann der Einzelne diesen Zwängen nicht entkommen; weder der Herrschende noch der Unterdrückte. Die kollektiven Organisationsstrukturen der Gesellschaft binden alle in einer Irrationalität des Rationalen. Dies versuchen Horkheimer und Adorno zu erläutern, indem sie die Unterdrückung über die innere und äußere Natur des Menschen im Zusammenhang mit den Produktionsverhältnissen erörtern. Die Interpretation Homers Odyssee „als einem der frühesten repräsentativen Zeugnisse bürgerlich-abendländischer Zivilisa-tion“[10] dient dieser Erörterung, da hier mythischer Inhalt und Schriftform als Zivilisationsmerkmale aufeinander treffen.

Verschiedene Stationen der Irrfahrt des Odysseus werfen dabei in unterschiedlicher Weise Licht auf den gleichen Problemzusammenhang. Wohl am deutlichsten spricht die Interpretation derjenigen Textpassage, in der Odysseus an den Sirenen vorbeifährt.[11] Odysseus wird von Kirke gewarnt, dass sein Schiff an den Sirenen vorbei müsse und jeder, der ihnen lausche, verloren sei. Sie rät ihm daher, allen Gefährten die Ohren mit Wachs zu verstopfen. Wenn er jedoch selbst den Sirenen lauschen möchte, so solle er sich an den Mast binden lassen und seinen Leuten befehlen, ihn nur noch stärker zu binden, wenn er darum flehen sollte, losgebunden zu werden. Diesen Ratschlag befolgt Odysseus bei der Vorbeifahrt an den Sirenen. Horkheimer und Adorno deuten dies in der Weise, dass die Arbeitenden durch ihre unablässige Ruderarbeit gar nicht in die Gelegenheit kommen, den Sirenen zu lauschen. Ihre mit Wachs verstopften Ohren sind Zeichen dafür, dass sie ganz von ihrer Arbeit eingenommen sind: „Frisch und konzentriert müssen die Arbeitenden nach vorwärts blicken und liegen lassen, was zur Seite liegt. Den Trieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzliche Anstrengung sublimieren. So werden sie praktisch“.[12] Odysseus als Herrschender ist auf andere Weise gebunden. Er kann zwar den Verlockungen der Sirenen lauschen, aber je stärker die Lockungen werden, desto kräftiger lässt er sich fesseln. Er wird für die Autoren damit zum Bild des gebildeten Bürgers, Aristokraten oder Herrschenden, der zwar Zeit und Muße außerhalb des Arbeitsprozesses findet um zur Seite zu blicken, indem er z.B. nachdenkt oder Kunst genießt. Doch er versagt sich das Glück, je näher es ihm kommt. „Der Gefesselte wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus.“[13] Kultur steht damit zur kommandierten Arbeit in genauer Korrelation. „Die Oberen erfahren das Dasein, mit dem sie nicht mehr umzugehen brauchen, nur noch als Substrat und erstarren ganz zum komman-dierenden Selbst.“[14] „Die Ruderer, die nicht zueinander sprechen können, sind einer wie der andere im gleichen Takte eingespannt, wie der moderne Arbeiter in der Fabrik, im Kino und im Kollektiv. (…) Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft, in die das antike Fatum unter der Anstrengung, ihm zu entgehen, sich schließlich gewandelt hat.“[15]

Für die beiden Autoren steht fest, dass die Teilung von geistiger und körperlicher Arbeit den Zivilisationsprozess entscheidend bestimmt. Die Oberen haben dabei ihren Bezug zu den Dingen verloren. Weil sie ihre eigene innere Natur unterdrücken, erlangen sie die Fähigkeit zum Überblick: sie kommandieren und organisieren. Die Arbeitenden hingegen sind so mit den alltäglichen Aufgaben und der Produktion beschäftigt, dass sie ihre Nähe zu den Dingen weder wahrnehmen noch wahrnehmen können.[16] Auf der individuellen Ebene bildet sich ein reziprokes Verhältnis zwischen der selektiven Wahrnehmung und Handhabung der äußeren Natur und dem selektiven Durchlassen von Triebregungen. Einer Welt, die unter dem Blickwinkel der Beherrschbarkeit betrachtet wird, kann nur ein selbstbeherrschtes Subjekt gegenübertreten. Disziplin und Selbstbeherrschung werden zu Tugenden, die das Überleben sichern. Selbsterhaltung ist Selbstverleugnung. „Furchtbares hat der Mensch sich antun müssen bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird in jeder Kindheit wiederholt.“[17] Auf der gesellschaftlichen Ebene hingegen werden Menschen und Kultur berechenbare Elemente. Individuen werden zu Funktionsträgern, die ihre Aufgaben im Gesamtzusammenhang erfüllen.