Naturwissenschaft und Mythos (VII)

/

An dieser Stelle nun wird die Frage danach, ob es sich beim Ferment um eine Konstruktion Pasteurs handelt oder um eine von Pasteur entdeckte Realität, die, seit es Milch gibt, schon immer existierte und existieren wird, dringend. Pasteur selbst schreibt in seinem Forschungsbericht entwaffnend offen:

„Im Verlauf dieses Berichts habe ich unter der Annahme argumentiert, dass die neue Hefe ein organisiertes Lebewesen ist und ihre chemische Wirkung auf den Zucker einhergeht mit ihrer Entwicklung und Organisation. Wollte man einwenden, dass ich in diesen Schlussfolgerungen über die Tatsachen hinausgehe, so würde ich antworten, dass dies stimmt, insofern ich mich bewusst in einem Bereich von Gedanken [un ordre d’idées] bewege, die strenggenommen nicht unwiderleglich bewiesen werden können.“[24]

Andererseits konstatiert Pasteur, dass jeder, der seine Ergebnisse unparteiisch prüft, seine Folgerung anerkennen wird.[25] Latour erklärt dieses scheinbare Paradox damit, dass Pasteur die Bezugsebene wechselt: zwar ist Pasteur einerseits als Erzähler aktiv, aber nur, um die Aktion an eine andere nichtmenschliche Figur zu delegieren.[26] Latour bemerkt: „Pasteur autorisiert die Hefe, ihn zu autorisieren, in ihrem Namen zu sprechen. Wer Autor des gesamten Prozesses ist und wer die Autorität im Text hat, sind offene Fragen, da Figuren und Autoren Glaubwürdig-keiten austauschen“.[27] Latour nennt diesen Prozess „shifting out“. Pasteur kann offen zugestehen, dass er innerhalb seiner eigenen Bezugsebene mit seinen Schluss-folgerungen über die Tatsachen hinausgeht; er kann nicht beweisen, dass es das Ferment als solches gibt. Er kann nur die Performanzen des Ferments offen legen, beschreiben und daraus plausibel machen, dass es das Ferment geben muss. Genau dadurch erhält aber das Ferment die Möglichkeit, als Ferment zu agieren und seine Kompetenzen auf einer zweiten Bezugsebene, nämlich der des Ferments, also auf der Bühne, die Pasteur für es bereitet hat, unter Beweis zu stellen. Beide, Pasteur und das Ferment, sind gleichermaßen an dem Experiment beteiligt und gehen unterschiedlich aus ihm hervor. Eine solche Sicht widerspricht fundamental dem Aussagen-Modell, nach dem nur wir als sprachbegabte Subjekte über die stummen Dinge der Natur sprechen können und sich Erkenntnis aus der Korrespondenz zwischen Welt und Sprache ergibt. Latour möchte statt dessen die Sprachfähigkeit zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen neu verteilen[28] und schlägt dazu den Begriff der Proposition vor. Propositionen sind Vorschläge, „die sich verschiedene Entitäten bieten, miteinander in Kontakt zu treten“.[29] Sie sind damit weder Aussagen noch Dinge, sondern zeichnen sich vielmehr durch die Vielfalt der Differenzen und Gemeinsamkeiten aus, die unter ihnen bestehen. Mit der Parabel am Anfang des zweiten Teils dieser Arbeit könnte man sagen, Propositionen sind weder grün noch rot, sondern bieten Optionen von Farben, Strukturen, Materialien und anderen Eigenschaften an. Was eine Entität ist, ergibt sich damit nicht aus einer Aussage, die Subjekte über tatsächliche Objekte treffen, sondern aus einem wechselseitigen Interaktions- und Kommunikationsprozess, in dem sich alle beteiligten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure Optionen gemeinsamer Beziehungen vorschlagen. Unter diesem Blickwinkel ließe sich sogar unser Problem mit den Tiermenschen klären, mit dem wir durch Lévi-Strauss und de Angulo konfrontiert wurden und das uns aus dualistischer Perspektive als purer Animismus vorkommen musste. In den Tiermenschen und menschlichen Tieren können wir nunmehr Akteure sehen, deren Performanzen in Lévi-Stauss` kanadischem Mythos und bei Old Bill auf eine Weise versammelt wurden, die innerhalb des dualistisch-abendländischen Weltbezugs strengstens mit Tabu[30] belegt ist. Dabei ist die einzige Performanz wahrscheinlich in Old Bills Begriff teeqaadewade toolol aakaadzi (world-over, all living) zu suchen, den er mit englisch „is“ übersetzt, und der es ihm erlaubt Menschen (people/indians), Tiere (animals) und Dinge (rocks/bench) als dem gleichen Ensemble zugehörig zu identifizieren.[31] Man könnte auch sagen, Old Bill ist auf die Propositionen eingegangen, die Performanz teeqaadewade toolol aakaadzi als Sammelkriterium für ein Ensemble von Wesen anzunehmen, für das es im Subjekt-Objekt Dualismus keine Entsprechung gibt.

Propositionen sind zwar im seltensten Fall sprachliche Aussagen, aber solange sie sich in einem interpretierbaren Symbolsystem artikulieren, können sie als Bedeutung konstituierende Kommunikationsform gewertet werden. Für die Artikulation von Propositionen eignen sich Latour zufolge also auch „Gesten, Forschungspapiere, experimentelle Anordnungen, Instrumente, Feldforschungs-stätten oder Versuche“.[32] Das Ferment ist demnach weder eine Konstruktion Pasteurs noch eine objektive Entität. Es ist vielmehr eine Proposition, die durch Pasteurs Forschung auf spezifische Art artikuliert wurde und damit die Möglichkeit erhielt, Pasteurs Forschung zu artikulieren. Betrachtet man Forschung auf diese Weise, wird der Streit um Konstruktion und Realität obsolet. Wir hätten dieser Kontroverse gleichsam ihrer ontologischen Prämissen beraubt, auf denen beruhend sie ausschließlich Relevanz hatte.

Die Schlussfolgerung daraus mag irritierend wirken, doch sie bringt uns zur Ausgangsfrage zurück. Wenn durch Pasteurs Forschung eine Reihe von Perfor-manzen als Proposition artikuliert wurde, dann gab es das Ferment als Substanz nicht, bevor Pasteur seinen Forschungsbericht schrieb. Wir haben hier genau das gleiche Problem wie bei dem Versuch, Newtons Gravitationstheorie als Teilbereich der Einsteinschen Relativitätstheorie auszuweisen und jene aus dieser ableiten zu wollen. Es ist schlichtweg nicht möglich, da Newtons Masse eine andere war als Einsteins Masse usw. Latour schreibt:

„Ein Milchsäureferment, das 1858 in einem Nährmedium in Pasteurs Laboratorium in Lille gezüchtet wurde, ist nicht das gleiche Ding wie der Rückstand einer Alkoholgärung in Liebigs Laboratorium in München im Jahr 1852. Warum nicht das gleiche? Weil es nicht aus den gleichen Artikeln besteht, nicht aus den gleichen Gliedern, nicht den gleichen Akteuren, nicht den gleichen Geräten und nicht den gleichen Propositionen. Die beiden Sätze wiederholen sich nicht einfach. Sie artikulieren etwas Verschiedenes. Aber das Ding selbst, wo ist das Ding? Hier, in der längeren oder kürzeren Liste der Elemente, die es ausmachen. Pasteur ist nicht Liebig, Lille ist nicht München. 1852 ist nicht 1858. In einem Nährmedium ausgesät werden ist nicht das gleiche, wie der Rückstand eines chemischen Prozesses sein, und so fort.“[33]