Ein Brief an Frauke Petry

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Heute musste ich einfach diesen Brief an Frauke Petry schreiben:

Liebe Frauke Petry,

eigentlich macht es wahrscheinlich gar keinen Sinn an Dich zu schreiben, aber ich wüsste nicht an wen ich sonst schreiben soll. Von denen, an die ich mich richte, bist Du mir noch am nächsten. Vielleicht weil Du in dem gleichen Land lebst wie ich, ich traue mich gar nicht zu schreiben: weil Du auch Deutsche bist. Vielleicht schreibe ich Dir, weil ich von Dir besonders viel in den Nachrichten lese, vielleicht aber auch weil ich immer wieder Bilder von Dir sehe und denke: Du siehst eigentlich ganz nett aus, ein bisschen verbissen vielleicht, aber doch jung und engagiert. Mit ziemlicher Sicherheit bist Du auch nicht dumm und unter denen, an die ich mich heute wenden will, traue ich Dir am meisten Intelligenz und Reflexionsvermögen zu. Ich traue Dir zu, dass Du Dich auseinandersetzen kannst und Dich nicht nur einfach nur plump verschließt. Ich weiß es nicht. Ich folge einfach meiner Intuition und schreibe Dir. Aber genauso gut könnte ich an Geert Wilders, an Recep Tayyip Erdogan oder Wladimir Putin, an Boris Johnson oder Marine Le Pen schreiben. Und natürlich an Donald Trump. Und ja, auch an einen Pierre Vogel. Und eigentlich müsste ich an alle schreiben, die die AfD und vergleichbare Parteien wählen, an die Menschen, die zu Pegida Demonstrationen gehen, oder Frau Clinton als Hure beschimpfen, an diejenigen, die die Säuberungen in der Türkei durchführen, an die, die ohne Abzeichen in der Ukraine kämpfen, an die, die Fassbomben auf Zivilisten werfen und an die, die für den IS kämpfen und Terror verbreiten. Aber ich schreibe an Dich, weil ich irgendwie denke: Du bist gebildet, Du hast mit einem Pastor zusammen gelebt. Du kannst vielleicht von all denen, die ich aufgezählt habe noch am ehesten verstehen, was ich sagen und fragen möchte.

Und nimm es mir bitte nicht übel, dass ich Dich Duze. Es ist keineswegs respektlos gemeint, Vielmehr ist mein Anliegen persönlich. Ich möchte als Mensch zu Dir als Mensch sprechen. Ich möchte über Ängste und Gefühle sprechen und darüber wohin sich unsere gemeinsame Welt entwickelt, in der Du und ich und über 7 Milliarden Menschen doch eigentlich nur eins wollen: persönlich für sich, ihre Familien und ihre Freunde ein gutes, sicheres und glückliches Leben leben. Und ich habe den Eindruck über diese Dinge kann ich nicht zu Dir schreiben, wenn ich eine förmliche Ansprache wähle.

Kürzlich war ich im Theater. In einem Puppentheater. Nicht so eins für Kinder, sondern eins, dass es in Tiefe und Professionalität mit jeder großen Bühne in Deutschland aufnehmen kann. Es war ein Stück über einen jüdischen Arzt, der im zweiten Weltkrieg in Warschau ein Waisenhaus mit 100 später 200 Kinder führte. Ich möchte gar nicht viel dazu sagen. Du kannst Dir denken, wie die Geschichte ausging. Nicht mit einem Happy End. Zuerst wurde das ganze Waisenhaus ins Warschauer Ghetto umgezogen, später wurden alle Kinder, der Arzt und sein Personal in Treblinka ermordet. Nur 20 Kinder konnten gerettet werden, weil sie falsche Pässe erhielten und rechtzeitig in ein polnisches Waisenhaus umquartiert wurden. Eine wahre Geschichte. Am Ende der Vorführung dankte der Puppenspieler und Regisseur dafür, dass er immer noch einen Raum habe, in dem er solch ein Stück einem großen Publikum vorführen könne. Ich hatte das Gefühl, dass die Meisten diese Bemerkung überhörten. Mein Eindruck war aber, er wollte sagen: wir sind wieder an einem Punkt in der Geschichte angekommen, wo wir es nicht für selbstverständlich nehmen können, dass Geschichten wie diese frei erzählt werden können.
Du wirst jetzt wahrscheinlich mit den Augen rollen. Vielleicht sagst Du Dir innerlich: es fing ja ganz interessant an, aber jetzt kommt wieder dieser Nazi-Vergleich. Nein, er kommt nicht, ich will gar nicht auf den Nazi-Vergleich hinaus. Du wirst selbst viel besser wissen als ich, wie nahe Du nationalistischen und rechten Ideologien stehst. Ich möchte auf etwas anderes hinaus.

Ich möchte darauf hinaus, wie es dazu kommen konnte, dass anständige Bürger plötzlich zu Wachsoldaten des Warschauer Ghettos werden konnten. Ich möchte darauf hinaus, wie es dazu kommen konnte, dass es Menschen gab, die ohne mit der Wimper zu zucken 200 wehrlose Kinder in die Eisenbahnwaggons nach Treblinka schicken konnten. Ich möchte darauf hinaus, wie es dazu kommen konnte, dass normale Menschen wie Du und ich so dermaßen verrohen und innerlich degenerieren konnten, wie sie ihre Gefühle, ihre spirituelle Integrität, ihre Mitmenschlichkeit, ihre Humanität verlieren konnten und entgegen jeder Moral, jeden Anstands, jeder empathischen Regung handeln und 200 unschuldige Kinder in den Tod schicken konnten.

Verstehst Du das, Frauke Petry? Hast Du Antworten darauf? Und was können wir tun, damit das nie nie wieder geschieht? Fragst Du Dich diese Frage überhaupt, oder hast Du auch schon den Zugang zu dem verloren was Dich zu einem Menschen macht? Denn ich verstehe nicht, wie man diese Frage trotz aller vorhandenen Probleme aus den Augen verlieren kann!

Ich denke in den letzten Tagen viel über Hanna Ahrendts Berichte zum Eichmann Prozess nach. Kennst Du diese Berichte? Du weisst sicherlich, dass Hanna Arendt für ihre Einschätzung von Eichmann angegriffen wurde. Sie sagte in etwa, dass sie davon erstaunt gewesen sei, dass Eichmann eben kein Monster war, sondern im Grunde ein schlichter Bürokrat, der „nur“ pflichtbewusst seinen Job machte. Dass er im Grunde ein banaler Mensch gewesen sei. Und dass wir alle wie Eichmann werden könnten, wenn wir uns dem Niederen hingeben: unseren Ängsten, unserem Hass, unseren eigenen Verletzungen, unseren Vorurteilen. Was muss passieren, damit ein normaler Mensch seine Menschlichkeit verliert? Hast Du eine Antwort darauf, Frauke?

Eine andere Geschichte: Verfolgst Du die Nachrichten? Hast Du mitbekommen was gerade in Aleppo passiert? Ich selbst verfolge es nur oberflächlich, das gebe ich zu. Es zerreißt mir das Herz und lässt mich nicht ruhig schlafen, daher kann ich diese Nachrichten nur sehr gering dosiert verkraften. Aber es gibt andere in meiner unmittelbaren Nachbarschaft die es täglich und minutiös verfolgen, weil sie dort Familie und Freunde haben. Weil Sie aus Aleppo kommen. Sie haben bei uns Schutz gefunden und können nun aus sicherer Entfernung sehen, was in ihrer Heimat geschieht. Viele haben Angehörige, die noch immer in Aleppo leben. Und nun verfolgen diese Menschen im Internet und an den Bildschirmen, wie die Straßen, in denen sie noch kürzlich lebten, liebten, spielten und ihrem Alltag nachgingen, zerbombt werden. Und Sie wissen, dass geliebte Menschen noch genau dort sind. Eine Frau, die bei uns im Dorf lebt, erlebte vorgestern einen psychischen Zusammenbruch deswegen und musste in die Psychiatrie eingeliefert werden. Sie schrie und weinte und war nicht mehr zu beruhigen. Ein 16-jähriges Mädchen, nur wenige Häuser von mir entfernt, sah ebenfalls wie die Straße, in der ihre Familie in Aleppo lebt, komplett ausgebombt wurde. Auch Sie weinte und schrie, war völlig außer sich und wurde aus Angst um ihre Eltern so panisch, dass unsere Nachbarn zur Hilfe eilten, um sie zu trösten und zu beruhigen. Noch immer hat sie keine direkte Nachricht, ob ihre Mutter und ihr Vater noch leben.
Ich weiß nicht, wie es Dir geht, Frauke, aber mir zerreißt es das Herz. Ich möchte helfen aber bin so hilflos. Und gleichzeitig bin ich froh, dass zumindest wir hier in Deutschland, im Land des Nationalsozialismus, heute einigen dieser Menschen Schutz gewähren können und sie willkommen heißen. Und obwohl ich überhaupt kein Fan von Frau Merkel bin, bin ich ihr dankbar, dass sie trotz ihres Berufs und ihrer Position und trotz der massiven Kritik ihren moralischen Kompass nicht verloren hat und kompromisslos für Menschlichkeit eintritt.

Und dann lese ich Nachrichten über Dich, Frauke. Von Deinem neuen Vorschlag, Flüchtlinge auf Inseln zu internieren. Und denke: bist Du schon verloren? Hast Du schon den Kontakt zu Deiner Menschlichkeit, zu Deiner Empathie verloren? Bist Du schon so in der Spirale von Angst und Hass gefangen, dass Dich das alles nicht mehr bewegt? Dass Du tatsächlich Menschen als Masse betrachtest, die man wie krankes Vieh oder gar wie lästige Dinge einfach entsorgen und aus den Augen schaffen muss? Ist Dein Wohlstand und Deine Identität wirklich so gefährdet, dass Du vergessen hast, dass Du da über Menschen und ihre Schicksale sprichst? Merkst Du nicht, dass Du Menschen, die auch einfach nur nach Sicherheit und einem guten Leben suchen, noch tiefer in den Staub drücken willst? Oder glaubst Du wirklich, dass Du damit eine Lösung vorschlägst, mit der Du das Leid dieser Menschen linderst und an einer besseren Welt arbeitest?

Ich merke wie ich an dieser Stelle zu schwimmen beginne und mich in meiner eigenen Wut verliere. Wenn ich so wütend bin, denke ich manchmal, man sollte Dich einfach mal für zwei Wochen nach Aleppo schicken. Damit Du erfährst und begreifst warum die Menschen nach Deutschland fliehen. Damit Du am eigenen Leib spürst, was diese Menschen mitmachen müssen. Du sorgst Dich so um unseren deutschen Wohlstand, um unsere deutsche Kultur und Identität. Aber hast Du eigentlich verstanden was diese Identität ausmacht, was die Errungenschaften dieser unserer Kultur und unserer Identität, unseres Abendlandes wirklich sind? Es sind Rechtsstaatlichkeit, Brüderlichkeit, Meinungsfreiheit, der Schutz von Hilfsbedürftigen und Minderheiten, aber vor allem Menschlichkeit, Toleranz und Liberalität! Du aber, Du verstehst das Leiden der Menschen nicht. Du bist empathielos. Dein Herz ist verschlossen. Dafür gibt es sicherlich Gründe und ich mag gar nicht daran denken, welche Ängste, welche Verletzungen und welche Traumata einen Menschen wie Dich dazu bringen mögen, die eigene Menschlichkeit und Anständigkeit zu verlieren. Ich bin sicher in Deiner Biographie wird es Gründe geben, die Dich dahin gebracht haben. Aber bitte gib Ihnen nicht weiter nach!

Entschuldige bitte, Frauke, ich habe mich hinreißen lassen. Ich wünsche niemandem zur Zeit in Aleppo zu sein, auch Dir nicht. Ich will doch einfach nur, dass Du aufwachst und wieder zu dem findest was gut und schön und hell, was großzügig und menschlich an Dir ist! Und ich bin verzweifelt, weil Du anscheinend nur noch für das Dunkle und Hässliche empfänglich bist. Für das Gute, Frauke, muss man auch offen und verletzlich sein können und sich seinen eigenen Schmerzen stellen können. Das ist nicht schön und harte Arbeit. Es braucht Mut und Stärke. Aber glaub mir, es tut gut! Es tut besser, als dem Hass und der Angst nachzugeben und damit eigentlich nur Mutlosigkeit und Schwäche zu zeigen.
Ich glaube, ich habe eine Antwort auf meine eigene Frage, die ich gerade gestellt habe. Sie mag nicht besonders originell sein aber ich möchte Sie Dir trotzdem mitgeben: ich glaube, dass Menschen wie Eichmann oder die Wachsoldaten des Ghettos zu Monstern werden konnten, weil die politischen Umstände der Zeit es legitimieren, den eigenen niederen Instinkten und Trieben, den Ängsten und dem Hass nachzugeben. Das steckt wohl leider in uns allen. Aber erst wenn wir dafür einfache Entschuldigungen angeboten bekommen (zum Beispiel: nur seine Pflicht getan oder das eigene Land geschützt zu haben etc.) wird es wirklich möglich, offen so zu reden und zu handeln. Dann entsteht ein gesellschaftliches Klima, in dem der Einzelne sich nicht mehr vor seinem eigenen Gewissen oder meinetwegen auch vor Gott zu verantworten hat, sondern sich durch die politischen und gesellschaftlichen Umstände von dieser Verantwortung und dem eigenen Gewissen befreit sieht. Dann zerbrechen demokratische, liberale Gesellschaften wie unsere und die archaische primitive Angst vor allem, was anders ist, gewinnt die Oberhand und bahnt sich ihren Weg.

Solche Umstände entstehen aber nicht von selbst. Sie werden erzeugt. Von denen, die mit Terroranschlägen Unschuldige ermorden, ebenso wie von denen, die an der Grenze auf Flüchtlinge schießen lassen wollen. Von denen, die die Angst vor dem Islam nutzen, um ihr Land aus einem Bund wie der EU zu lösen, wie von denen, die eine Mauer bauen wollen. Von denen, die politische Säuberungen durchführen ebenso wie von denen, die Minderheiten wie Homosexuelle verfolgen lassen. Von all denen, die sich bereitwillig auf eine Spirale von Gewalt, Verfolgung, Hetze und Gefühlskälte einlassen.

Und deswegen verläuft die Front auch nicht zwischen Europa und den Flüchtlingen, zwischen Christen und Islam, zwischen der Ukraine und Russland, zwischen Erdogan und Gülen. Das alles sind falsche Fronten, die den Menschen den Blick auf das eigentliche Problem vernebeln sollen und uns tiefer und tiefer in Angst, Hass, Terror und Unmenschlichkeit verstricken. Die wahre Front verläuft zwischen denen, die der Angst und dem Hass nachgeben, die Menschlichkeit und Empathie für ihre Mitmenschen zu Gunsten abstrakter Kategorien wie Nationalstaat, Religion und politischem Programm aufgeben und die Spirale von Gewalt, Brutalität hinabsteigen und denen, die bereit sind bei allen Herausforderungen und Schwierigkeiten trotzdem an Mitmenschlichkeit, Freiheit, Toleranz und Verständigung festzuhalten und die Probleme aus dieser Haltung heraus lösen wollen.

Auf der einen Seite, Frauke, stehst Du und all die, die ich eingangs genannt habe. Auf der anderen Seite stehen zunehmend immer weniger. Und das macht mir furchtbare Angst. Und wenn ihr gewinnt, wenn das, wofür Du und Pegida und Trump und Johnson und Putin und der IS steht, nämlich die Spirale der Angst und Gewalt immer schneller zu drehen, dann werden wir schon bald wieder an dem Punkt sein, an dem Meinungen nicht gesagt werden können; an dem ein Theaterstück über die Ermordung von Kindern nicht mehr gezeigt werden kann; an dem sich Journalisten sich nicht mehr trauen, sich frei zu Äußern; an dem die EU zugunsten nationalistischer und zunehmend rassistisch denkender Kleinstaaten zerfällt. Und wenn Du diese Konsequenz ganz deutlich vor Augen hast: willst Du dann wirklich zu den Wegbereiter*innen einer solchen Zukunft zählen? Das frage ich mich und Dich!