Lasst uns 2019 neue Geschichten erzählen!

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Liebe Freund*innen, Kolleg*innen, Weg- und Prozessbegleiter*innen,

Wir brauchen neue Geschichten! Und 2019 können wir zu dem Jahr machen, in dem wir wieder beginnen diese Geschichten mit Kraft und Begeisterung zu erzählen.

Die letzten Jahre waren wir wie paralysiert von Trump, dem Brexit, den Autokraten und den Populisten, die wie längst vergessene Schatten aus den verstaubten Löchern der Geschichte gekrochen sind. Die alten Institutionen, die politische Ordnung nach dem zweiten Weltkrieg, die UN, die EU und das alte Parteiensystem aus Sozialdemokratie und christlichem Konservativismus, der Neoliberalismus der 90er: all das sind Geschichten, die uns schon lange langweilen und wenig dazu beitragen, unser alltägliches Erleben in sinnstiftende Narrative zu betten. Es sind Geschichten, die keine Versprechungen mehr bereit halten, die keinen Enthusiasmus mehr in uns wecken und keine Bedeutung mehr für die Welt schaffen, in der wir heute leben. Die großen Themen des letzten Jahrzehnts: die „Bankenrettung“, die „Griechenlandkrise“, die „Flüchtlingskrise“ und die darauf reagierenden politischen Maßnahmen waren für einen Großteil der Bevölkerung nicht nachzuvollziehen. Es fehlten die rahmenden Geschichten, in der diese Episoden Sinn ergeben hätten.

In dieses Sinn-Vakuum stießen die Populisten, Autokraten und Antidemokraten. Ihre einfache, bekannte und daher anschlussfähige Erzählung: „Früher war alles besser! Wir brauchen wieder starke Führung, klare Grenzen. Wir müssen uns und unsere Identität schützen und verteidigen; zur Not auch mit letzten Mitteln.“ Aus Ermangelung neuer Ideen und Antworten griffen sie ganz tief in die alte Mottenkiste aus Ängsten, Ressentiments, Fremdenhass und holten die verstaubten Märchen von Nationalität und eindeutiger Identität wieder hervor, die wir alle schon längst zu den Sonntagsgeschichten unserer Groß- und Urgroßväter sortiert hatten: zu den Pickelhauben und Räuber Hotzenplotzen. Diese alten Märchen schrieen in unsere Postmoderne: „Lasst uns wieder sein wie wir wir immer schon waren, verschont uns mit dem Anderen, dem Differenten, dem Globalen!“

Alle wir, die wir daran geglaubt hatten, dass diese Welt nach und nach freier, gerechter, sauberer und schöner werden könne, standen dem Auferstehen dieser alten Erzählungen sprachlos gegenüber. Wir konnten nicht glauben, was gerade vor unseren weit aufgerissenen Augen passierte. Wir waren paralysiert, bewegungslos, unter Schock und gleichsam fasziniert von dem Spektakel an Hysterie, Unflätigkeiten, Lügen und Amoralität, die mit diesen Geschichten über uns ausgekippt wurden. Es war, als würde uns ein Blick in ein archaisches, kollektives Unterbewusste gewährt, von dem wir doch geglaubt hatten, wir hätten es durch liberalen Anstand, offene Demokratie, kritischen Diskurs und weltoffene Haltung sicher in die Vergangenheit der Geschichte verbannt.

2019 muss sich das wieder drehen. Wir müssen aus der Schockstarre erwachen und die Geschichten erzählen, die jetzt gebraucht werden. Die Welt verändert sich in rasendem Tempo. Wir haben nicht die Zeit, die uns Klimaskepsis und Fremdenfeindlichkeit kosten. Wir haben nicht die Muße, uns durch kleinliche Sandkastenstreitereien von den großen und wichtigen Projekten ablenken zu lassen. Wir brauchen neue mutige Lösungen für unsere Probleme. Wir benötigen innovative Ideen, wie wir zukünftig mit zwölf Milliarden Menschen auf und mit dieser Erde friedlich koexistieren können.

2019 sollte das Jahr sein, wo wir wieder zur Sprache finden und neue, starke, Sinn stiftende Geschichten erzählen. Die alten Märchen und Mythen von Nation, Volk und Identität sollten wir dabei weit von uns weisen, auch die biederen, angestaubten und blutlosen Erzählungen von Kapitalismus, Kommunismus oder Neoliberalismus. Ja: die alten großen Erzählungen sind tot und eine neue totalitäre Erzählung steht außer Frage. Aber erzählen wir gar keine neuen Geschichten, tun es die Anderen: die Antidemokraten und Autokraten, die Extremisten und Populisten. Und sie sind erfolgreich damit, Menschen eine Orientierung und einen Rahmen zu geben, in dem anscheinend Sinn und Bedeutung gefunden werden können.

Das könne wir auch und wir können es besser: wir können unzählige diverse Geschichten von Liebe, Mut, positiver Veränderung und wirkungsvollem Engagement erzählen, die sich zu einem großen starken Gewebe einer vernetzten Erzählung zusammenfügen und ein Bild davon zeichnen, wie wir die Welt zum Positiven gestalten.

Und wir können und müssen dabei lernen. Ja, wir haben vernachlässigt, dass Menschen auch ihre kleinräumigen Identitäten benötigen: den Kiez, das Dorf, die Stadt, die Region, das Land, die eigene Sprache, Kultur und Tradition, ihren Glauben. Wir brauchen aber auch umfassende gemeinsame Identität: die Erde, Gaia, den Planeten, auf dem wir in aller Unterschiedlichkeit leben und den wir uns mit anderen Spezies teilen. Wir werden davon erzählen müssen, wie wir besser zusammen arbeiten, zusammen gestalten und zusammen leben können und was es jeweils dazu braucht. Wir werden davon erzählen müssen, wie wir aus unseren Erfahrungen lernen, wie wir uns Konflikten stellen und sie miteinander lösen können. Wir werden erzählen müssen, wie das Neue entstehen und dauerhaft erfolgreich sein kann.

Gefahrvolle und herausfordernde Aufgaben für die Protagonisten unsere Geschichten, für uns, haben wir genug: wir müssen keine Drachen besiegen und Prinzessinnen befreien. Aber wir müssen den Klimawandel stoppen, die Meere von Plastik befreien, den Wohlstand besser verteilen und dabei die Ökosysteme schützen, wir müssen natürliche Fülle schaffen, Böden wiederherstellen und Ökosysteme regenerieren, wir müssen Atom- und Chemiewaffen abschaffen, Kriege reduzieren und globale Konflikte lösen. Wir müssen lernen, so zu wirtschaften, dass die Ressourcen dieser Erde nicht verbraucht oder verschmutzt, sondern erhalten und wenn möglich wieder aufgebaut werden. Wir müssen daran arbeiten, jedes Land der Erde zu einer sicheren und wohlhabenden Heimat zu machen, so dass der Lebensort eine freie Wahl und keine Notwendigkeit des Überlebens mehr sein muss. Und während wir diesen Herausforderungen begegnen, werden wir uns unserer individuellen und kollektiven Held*innenreisen stellen, unseren Schatten begegnen und dabei wachsen, lernen und uns transformieren.

Hinter all diesen Geschichten von neuen Herkulesaufgaben steht ein gemeinsames Motiv, das es herauszuarbeiten gilt: die Entwicklung einer neuen Kulturtechnik der Kokreation. Wir werden uns erzählen und darin bestätigen müssen wie wir es schaffen können, bei Wahrung und Achtung aller Unterschiedlichkeiten, in kreativen, transformierenden Prozessen zu interagieren und dabei unser gemeinsames Potential durch die Förderung individueller Potentiale zu heben. Wir werden berichten müssen, wie es gelingen kann, neue Ideen und Lösungen zu entwickeln und diese Welt in Resonanz mit allen und allem zu gestalten.

Und so wie wir beginnen neue Geschichten zu erzählen, so werden wir die Welt entsprechend umgestalten: durch reformierte und neue Institutionen, durch partizipative Projektstrukturen in unseren Nachbarschaften, durch neue kollaborative demokratische Verfahren in unseren Parlamenten und Regierungsinstitutionen und durch kokreative globale Governancestrukturen. Wir werden erzählen von den offenen, dynamische Partnerschaften, die uns helfen zu kooperieren, zu kollaborieren und zu partizipieren. Und wir werden erzählen von den generativen und ermächtigenden Prozessen, in denen wir uns begegnen, uns kennen lernen und uns verstehen, in denen wir uns helfen, heilen und fördern und durch die wir miteinander zu Entwickler*innen, Gestalter*innen und Designer*innen werden, die das Alte transformieren und das Neue, Emergente schaffen.

Lasst uns 2019 zu einem guten Jahr machen! Lasst uns starke Geschichten erzählen, die Begeisterung wecken und positive, nach vorne gewandte Perspektiven bieten, die uns Lust machen, uns zu neuer Kreativität inspirieren, die von Liebe, Mut und Fülle getrieben sind und die in sich die gleiche Hoffnung tragen: dass eine friedliche und erfüllende Koexistenz auf dieser Erde möglich ist.

Ich freue mich auf 2019 mit Euch!

jascha rohr