Adorno in Oxford

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2. Der Academic Assistance Council. Hilfe für emigrierte Intellektuelle.

Wie im letzten Kapitel angesprochen, fanden sich in Großbritannien viele jüdische Gemeinden und Hilfsorganisationen dazu bereit, den Emigranten finanzielle und organisatorische Hilfe zu leisten. Dadurch war die Regierung im Gegenzug bereit, die Einreisebestimmungen zu entschärfen und auch Menschen ohne viel Kapital ins Land einreisen zu lassen. Im Zuge dieser Hilfsmaßnahmen wurde schon recht früh im Mai 1933 der Academic Assistance Council (AAC) von Sir William Beveridge, dem damaligen Direktor der London School of Economics and Political Sciences gegründet. Der AAC war die wichtigste Hilfsorganisation für emigrierte Wissenschaftler und wurde im März 1936 umbenannt in die Society for the protection of Science and Learning (SPSL) (Hirschfeld, 1988, S.29-30).

Der am 22. Mai 1933 verfasste und von 41 Personen des öffentlichen Lebens unterschriebene Gründungsaufruf des AAC wurde in der scientific community mit viel Zuspruch aufgenommen. So hatte man den Hochschullehrern an der LSE (London School of Economics and Political Sciences) empfohlen, ein Prozent des Jahreseinkommens bei Dozenten bzw. drei Prozent bei Professoren in einen Unterstützungsfond zu zahlen, was eine Summe von 1000 Pfund ergäben hätte, doch allein auf Grund des ersten Aufrufs konnte man 7000 Pfund an Spenden verbuchen. So beschloss man, dass der auf nationaler Ebene tätige AAC auch den Wissenschaftlern helfen sollte, die erst am Anfang ihrer Karriere standen (Hirschfeld, 1988, S.30 und 32).

Schon bald zeichnete sich ab, dass Beveridge die Arbeit nicht mehr allein bewältigen konnte und so wurde der 26jährige Walter Adams, mit dem auch Adorno hauptsächlich korrespondierte, zum hauptamtlichen Generalsekretär ernannt, weiterhin wurde Esther Simpson angestellt, die für 19 Jahre beim AAC arbeitete (Hirschfeld, 1988, S.33) und von der einige Aktennotizen und spätere Korrespondenzen mit Adorno erhalten sind.

Dabei konzentrierte sich die Arbeit des AAC vor allem auf die Einrichtung eines akademischen Informationsdienstes und die Zuteilung von „maintenance grants“ – finanzieller Beihilfen für Unterhalt, Reisekosten oder Studiengebühren (Hirschfeld, 1988, S.33).

Wie der AAC arbeitete, kann man sehr schön an den SPSL Files sehen, die in der Bodleian Library in Oxford archiviert werden. So beginnt jede Aktenmappe mit einem Fragebogen, den die Wissenschaftler ausfüllen mussten. Obwohl sicherlich einige Angaben dem Zweck entsprechend formuliert wurden, lassen sich in Adornos Antworten des Fragebogens einige Informationen und Selbsteinschätzungen finden. Zum Beispiel gab Adorno hier als Referenzen Max Horkheimer, Paul Tillich, Ernst Cassirer, Charles Mannheim, Walter Otto, Dr. Reinhardt und W. Dubislav an. Zu den selteneren Informationen zählen die über sein Einkommen, das Adornos Angaben zufolge zwischen 1932 und 1933 sich nur auf 1200 RM an „Colleg-Geldern“ belief, da er im Haushalt seiner Eltern lebe, die für seine Lebenskosten aufkämen. Mit seinen Mitteln könne er noch bis zum Ende des nächsten „terms“ auskommen. Nach seinen Englischkenntnissen gefragt, gab er an: „I am able to read also difficult philosophical writers as Brudley, etc.“ Auf die Frage, wie gut er Englisch sprechen könne: „Enough to make me understood but not without mistake“. Und auf die Frage nach der Schreibfähigkeit: „Still rather badly“ (MS.SPSL. 322/2, No.47-49). Eine Einschätzung übrigens, die verglichen mit den englischen Briefen weder geschönt noch untertrieben war. Dass sein Englisch am Anfang seiner Oxforder Zeit noch nicht akademisch ausreichend war, war sicherlich auch für einen Teil der Probleme bei der Suche nach Anstellungen und öffentlichen Vorträgen verantwortlich. Auch spricht Adorno hier seine Pläne zu heiraten an, und gibt als mögliche Emigrationsländer vor allem England, die USA, die USSR und in einer Fußnote Frankreich an. Auf gar keinen Fall wolle er jedoch nach Japan oder den Fernen Osten. Des weiteren lag den Akten meist ein Lebenslauf, eine Liste der Veröffentlichungen, Gutachten und Empfehlungen und die Korrespondenzen bei.

Die Unterstützung des AAC bestand weitestgehend aus finanziellen Hilfen. Dabei wurden verheirateten Wissenschaftler bis zu 250 Pfund und unverheirateten 182 Pfund pro Jahr gezahlt. Hirschfeld gibt als Vergleich den Jahreslohn von Walter Adams als Geschichtsdozent vor seiner Ernennung beim AAC mit 459 Pfund an (Hirschfeld, 1988, S.34). Oft wurde noch nicht mal der volle Betrag gezahlt. Von 62 Zuwendungsempfängern 1934 erhielten nur 27 die Höchstbeträge (Hirschfeld, 1988, S.34). Auch war es üblich, Vorlesungsreisen durch die USA oder andere Sonderprogramme zu finanzieren. So gelang es allen Wissenschaftlern, denen der AAC eine solche Vortragsreise in der 30ern finanzierte, eine Stellung zu finden (Berghahn, 1984, S.78). Bis zum Juli 1935 hatten insgesamt 57 emigrierte deutsche Wissenschaftler in Großbritannien eine feste Anstellung an einer Universität oder außeruniversitären Forschungseinrichtung gefunden, während weitere 155 Emigranten zeitlich befristete Lehr- und Forschungspositionen übernahmen. In Oxford waren 15 Stellen besetzt worden (Hirschfeld, 1988, S.35).

Allerdings gab es auch Probleme verschiedenster Art. So gab es z.B. ein großes Ungleichgewicht zu Ungunsten der Geisteswissenschaften bei der Besetzung von Stellen (Hirschfeld, 1988, S.36) und nicht immer verlief die Aufnahme der emigrierten Wissenschaftler reibungslos. Sie waren oft mit Xenophobie und Antisemitismus konfrontiert, und Neid, Konkurrenzgedanken und antideutsche Stimmung konnte die Zusammenarbeit an den Universitäten und das leichte Zurechtkommen in der neuen Umgebung erschweren. Auf der anderen Seite, erläutert Berghahn (Berghahn, 1984, S.80), fanden es viele der Wissenschaftler schwierig, sich an die neuen Umstände zu gewöhnen und versteckten dies hinter Arroganz oder Aggressivität den britischen Kollegen gegenüber. Weiterhin verschlechterte sich in Großbritannien die Aussichten auf Anstellung mit der Zunahme der Flüchtlinge 1938 rapide und für immer mehr Wissenschaftler konnte Großbritannien daher nur als Zwischenstation zu einem anderen Land genutzt werden.

Eines dieser „terminal countries“ waren die Vereinigten Staaten, die das eigentliche Aufnahmeland für deutsche Wissenschaftler wurden, wie es auch für viele Intellektuelle um das Institut für Sozialforschung einschließlich Adorno der Fall war. Auch bei diesen Weiterwanderungen in die USA hatte der AAC eine bedeutende Position, und obwohl weder die Carnegie Corporation noch die Rockefeller Foundation, die zwei größten akademischen Stiftungen Amerikas, zur Zusammenarbeit bereit waren (Hirschfeld, 1988, S.37), gelang es dem AAC für viele deutsche Emigranten Überreise und Stellungen zu organisieren. Adornos Weiterreise war nicht auf diese Weise vom AAC vermittelt worden. Er hatte sein Angebot am Radio Research Project und am Institut für Sozialforschung mitzuarbeiten über Horkheimer erhalten. Trotzdem stand er auch während seines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten weiterhin mit dem AAC in Kontakt, um seine Angelegenheiten in Oxford zu regeln, denn auch nach seiner Weiterreise in die USA blieb er an der Universität Oxford eingeschrieben.

3. Adornos Weg in die Emigration

„Exil“, schreibt Dove, „ist nicht nur ein materielles Dilemma, es ist auch ein Geisteszustand, ein Gefühl der Befremdung. Es bedeutet eine fast vollkommene Veränderung der Lebensmuster: die physische Trennung von Freunden und selbst der Familie, der abrupte Verlust von Arbeit und Einkommen, die Störung täglicher Routine, das Verschwinden bekannter Orientierungspunkte, die plötzliche Abwesenheit von sozialen und kulturellen Sicherheiten die davor die Existenz stüzten.“ (Dove, 2000, S.5, Übersetzung JR). Wie und unter welchen Bedingungen kam nun Adornos Emigration nach England zu Stande, welche Rolle hatte er als Emigrant sich selbst gegeben und mit welcher Haltung war er den von Dove beschriebenen Problemen begegnet? Schaut man sich die Umstände Adornos Emigration an, so kann man zu der Vermutung kommen, dass Adornos Emigration eine schleichende war. Bei ihm kam das Exil nicht, wie für viele andere als ein plötzlicher Einschlag in der Lebensroutine, der mit sofortiger Aufgabe von Besitz, Freunden und Familie verbunden war. Auch war er nicht gezwungen gewesen, Deutschland auf der Flucht zu verlassen. Vielmehr zeichnete sich Adornos Auswanderung, wie ich versuchen werde zu zeigen, durch eine Prozesshaftigkeit aus, die ihn länger als es viele für möglich hielten, mit Deutschland verbunden hielt. Ich werde nur knapp auf die bekannten Daten und Stationen Adornos Emigration eingehen. Sie finden sich ausführlich dokumentiert bei Evelyn Wilcock (Wilcock, 1996b; Kramer und Wilcock, 1999). Vielmehr gilt mein Interesse Adornos eigener Einstellung zur Emigration. Als Thomas Mann nach Aufenthalten in Italien und der Schweiz in die Emigration nach Amerika ging, sagte er, dass er sich selbst nicht als jemanden betrachte, der gestürzt sei. Das wirft Licht auf die Tatsache, dass für viele Emigranten die Anerkennung ihres eigenen Emigrantenstatus ein schwieriger Schritt war und mit Zweifeln an der eigenen Entscheidung einherging. Nicht selten wurde, auch im Zuge der oben angesprochenen Hetzpropaganda der Nationalsozialisten gegen die Emigranten, die Flucht als persönliches Versagen, als geschlagen geben, aufgeben oder gar Verrat an der Heimat wahrgenommen. Dies scheint bei Adorno nicht der Fall. Statt dessen zeigt sich bei ihm ein langes Festklammern an der Normalität, dass sich erst in der Zeit löst, in der er schon in Oxford lebt, und das sich dann in eine als theoretische Auseinandersetzung ausgetragene Verarbeitung transformiert.

Nach Wilcock ging Adornos Entscheidung zur Emigration ein monatelanges Zögern voraus (Kramer und Wilcock, 1999, S.120). Er hatte seit Frühjahr 1931 als Privatdozent an der Universität Frankfurt gearbeitet und nebenbei ein wenig Geld mit dem Verfassen von Musikkritiken verdient (Wilcock, 1996b, S.327). Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland im Frühjahr 1933 begannen die ersten großen Auswanderungswellen. Politisch aktive Intellektuelle wie Heinrich Mann flohen schon im Februar aus Deutschland, doch vielfach glaubte man auch, dass die Nationalsozialisten bald wieder an Macht verlieren würden. So schrieb Adorno am 15.4.1933 an Kracauer: „Es herrscht völlige Ruhe und Ordnung; ich glaube, die Verhältnisse werden sich konsolidieren.“  (Marburger Literaturarchiv / Adorno Forschungsgruppe der Universität Oldenburg, 2001), nachdem am 27.2.1933 der Reichstagsbrand und am 1.4.1933 der erste Aufruf zum Boykott von jüdischen Geschäften vorangegangen war. Trotzdem hörte Adorno noch im Frühjahr auf, an der Universität zu arbeiten und verlor am 11.9.1933 seine venia legendi aufgrund der „Arierparagraphen“, die „nichtarische“ Menschen vom öffentlichen Dienst ausschlossen. In einem Brief an Berg vom 13.11.1933 schrieb Adorno daher von Plänen Deutschland zu verlassen. So hatte Adornos Vater schon für Kontakt mit dem AAC in England gesorgt und Adorno bemühte sich, geeignete Referenzen zu sammeln. Bezeichnend jedoch ist, dass ihm selbst eine Umhabilitierung nach Wien lieber gewesen wäre. Nicht nur weil er Wien schon aus seinen Studienzeit bei Alban Berg kannte, sondern aus einem Grund, den er selbst in diesem Brief niederschrieb: „Es bedarf ja keiner Erklärung, dass mir selber diese Lösung (nach Wien zu gehen – JR) die liebste wäre – die einzige, die nichts von ‚Emigration’ hätte.“ (Adorno und Berg, 1997). Anscheinend hatte er das Gefühl, dass Österreich als deutschsprachiges Ausland mit einem ihm bekannten sozialen und kulturellen Hintergrund ein Ausharren der Verhältnisse in Deutschland möglich gemacht hätte, ohne dabei das Gefühl einer emigrationsbedingten Diskontinuität haben zu müssen. Am 7.10.1934 schreibt Adorno im Rückblick an Krenek (Adorno und Krenek, 1974, S.42-47), dass er um jeden Preis in Deutschland zu bleiben suchte und dass er es dort zwar materiell hätte aushalten können, jedoch keine Wirkungsmöglichkeiten gehabt hätte. Von einer physischen Gefahr ist keinerlei Rede. Für die Vermutung, dass Adorno versuchte auch weiterhin an einer Perspektive in Deutschland festzuhalten, spricht auch sein Bemühen im November 1933 um eine Aufnahme in die Reichskulturkammer. Seinem Brief vom 28.11.1933 an Berg zufolge glaubte er daran, dass für „nichtarische“ Intellektuelle die Arbeitsmöglichkeiten erhalten bleiben würden. Auch anderen, wie Berg und Benjamin empfahl er, sich um Aufnahme in die Reichskulturkammer zu bewerben, um weiterhin in Deutschland arbeiten zu können. Noch im April 1934 schrieb Adorno an Benjamin über seinen Antrag und dass er glaube, dass sich der Nazistaat nicht zu lange halten werde. (Adorno an Benjamin, 21.4.34, Adorno und Benjamin, 1994). Erst am 20.2.1935 erhielt er die Ablehnung der Reichsschrifttumkammer, in der ihm nach § 10 der Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes eine Aufnahme abgelehnt wurde, da er durch seine „Eigenschaft als Nichtarier“ außerstande sei, die „Verpflichtung zu empfinden und anzuerkennen“ mit „geistigem und kulturellen Schaffen einen Einfluss auf das innere Leben der Nation auszuüben“ (MS.SPSL. 322/2, No.127). Ohne die Aufnahme in die Kammer war es Adorno fortan verboten eigene Arbeiten in Deutschland zu publizieren.

Die Bemühungen in England schienen schneller Früchte zu tragen und schon im März 1933 stellte sich Adorno im Büro des AAC in London vor. In den folgenden Korrespondenzen mit dem AAC und einigen als Referenzen und Gutachter hinzugezogenen Professoren zeigte sich jedoch sehr schnell, dass es keine geeignete Stellung für Adorno gebe. So schrieb Ernst Cassirer, der unter Adornos Referenzen aufgeführt war, am 12.3.1934 an Gent vom AAC: „If you regard this hope (eine Anstellung zu finden – JR) as premature – as I do, at any rate for Oxford, as a result of the enquiries I have made up till now – it would perhaps be good for the Academic Assistance Council once again to give him (Adorno – JR) a clear picture of the situation so that his expectations are not deceived.” (MS.SPSL. 322/2, No.65). Adorno machte sich zu diesem Zeitpunkt die Hoffnung eine Anstellung an einer englischen Universität zu finden, die der seiner Privatdozentur in Frankfurt mindestens entspräche. Dabei war ihm nicht klar, dass es im englischen Universitätssystem keine vergleichbaren Posten gab. Auch den Posten eines Assistenten gab es nicht. So ist zu erklären, dass seine ausdrücklichen Wünsche nach einer akademischen Position dem AAC gegenüber aus Unkenntnis des englischen Systems entsprangen. Kramer und Wilcock beschreiben, dass Vorlesungen in Oxford so organisiert waren, dass die in einem festen Stundenplan vorgegebenen Autoren, Texte und Epochen abgedeckt werden mussten. Diese Vorlesungen wurden von „lecturers“ gegeben, die sich in ihrem jeweiligen Fachgebiet schon einen Namen gemacht hatten. Im Collegesystem der Universitäten Oxford und Cambridge jedoch begann die Karriere meist damit, dass man als Tutor für die Undergraduates arbeitete, bis man eine reguläre „lectureship“ bekam. S.124 (Kramer und Wilcock, 1999). Eine solche Anstellung als Tutor wäre von der englischen universitären Hierarchie am ehesten für Adorno angemessen gewesen. Nach Harrison waren 1937 119 der 207 tutorial fellows unter 40 Jahren. Diese Stellen wurden jedoch meist intern von den Colleges vergeben. Harrison schreibt über sie: „Oxford’s decentralised power-structure fostered loyalty to the college. Fellows readily took college posts and retained them sometimes for years.” (Harrison, 1994, S. 85). Und nicht nur das, die Tutorien waren ein zentrales Element des Universitätssystems in Oxford und für die eigene Karriere wichtig: “the colleges rested secure on the continued primacy of the undergraduate tutorial – the hyphen which joined, the buckle which fastened senior to junior members. (…) Presumed skill in teaching was more important for gaining a fellowship than proved capacity for research; it was better to win a university prize than to acquire a formal postgraduate qualification.” (S.89-90) und weiter: “At a time when so many appointments were made through personal contact, wise employers consulted the tutors who knew their pupils so well (Harrison, 1994, S.93). Doch für Adorno, der keinerlei Beziehungen zu den Colleges hatte, waren diese Stellen nicht erreichbar. Für eine „lectureship“ wiederum reichte Adornos Reputation nicht aus. Aus diesem Grund schlug Prof. Macmurray vom University College in Oxford am 12.12.1933 dem AAC gegenüber vor, dass sich Adorno in Oxford oder Cambridge einleben solle, um dann aus eigener Anstrengung Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, um so einen Platz für sich selbst zu finden oder zu schaffen. (MS.SPSL 322/2, No.56). Am 15.5.1934 schlug Macmurray dann vor, Adorno solle einen englischen „degree“ machen, der ihm bei seiner weiteren Laufbahn von Nutzen sein würde und Adorno in das englische Universitätssystem einführe. Dabei wurde vor allem der B.Lit (bachelor of literature) oder der D.phil (doctor of philposophy) vorgeschlagen, beides relativ neu eingerichtete aber hochangesehene Studiengänge für Postgraduierte. Es war beim AAC übliche Praxis geworden, den Akademikern, für die sich keine Stellung finden ließ, vorzuschlagen, einen englischen Abschluss zu machen, um sich mit dieser Zusatzqualifikation besser in der englischen akademischen Welt zu positionieren. Schon kurz darauf, am 23.5.1934 schrieb Adams an Macmurray zurück, dass sich Adorno in Oxford einschreiben werde und man ihn mit Prof. Joachim bekannt machen werde, der ihm bei der Suche nach dem geeigneten College behilflich sein solle (MS.SPSL 322/2, No.81). Wilcock vermutet, dass Adornos Familienverbindungen einen starken Einfluss auf die Wahl des Colleges gehabt haben, da Bernard Theodore Wingfield, Adornos Onkel ebenfalls im Merton College studiert hatte, obwohl die Dokumente nicht auf eine Intervention von Bernard Wingfield schließen lassen (Wilcock, 1996b, S.327). Vielmehr scheint das Merton College zusammen mit Prof. Joachim gewählt worden zu sein. Es hatte einen guten Ruf, war aber wesentlich billiger als das New College, das ebenfalls zur Auswahl stand.

Schon im Juni 1934 schrieb sich Adorno zum kommenden Trimester ins Merton College als „advanced student“ ein. Damit hatte er den Status eines Postgraduierten, der selbstständig an seiner Thematik arbeiten konnte, aber als Student von vielen sozialen Veranstaltungen ausgeschlossen war. Adorno glaubte jedoch noch immer, dass sein D.phil.-Vorhaben ein Vorlauf zu einer akademischen Position sein könne. Der AAC organisierte während dieser Zeit die Verlängerung von Adornos Aufenthaltsgenehmigung, die ihm im Juni für ein weiteres Jahr gewährt wurde. Beides muss Adorno zu einer positiven Sicht seiner Position bewogen haben. Er schrieb am 10.6.1934 an Adams vom AAC: „Here, (in Oxford – JR) the June is delightfull and I am beginning to feel myself human again; a kind of feeling I had lost in Germany.“ Schon 10 Tage später jedoch änderte sich seine Stimmung. Adorno war für eine Woche krank und hatte anscheinend Zeit sich die Ereignisse der letzten Monate durch den Kopf gehen zu lassen. In einem weiteren Brief an Adams bringt er seine Besorgnis zum Ausdruck, dass auch sein englischer Abschluss ihm keine Stellung verschaffen könne und dass seine einigermaßen abgesicherte finanzielle Position dazu führen könne, dass finanziell weniger abgesicherte Bewerber ihm vorgezogen werden würden. Er schrieb weiterhin offen, dass es noch viele Probleme gebe, die ihm als Ausländer nicht ganz klar seien und bei denen er Hilfe benötige. (MS.SPSL 322/2, No.94-95). Die Anmerkung über die finanzielle Situation ist hier von besonderem Interesse und zeigt , dass Adorno zu den ersten Emigranten gehörte, von denen Carsten schreibt: „Diejenigen, die (nach Großbrittanien – JR) kamen, hatten oft Verwandte oder Freunde im Lande, die sich für ihre Aufenthaltskosten verbürgten; andere wiederum waren Akademiker, die Kontakte zu britischen Universitäten besaßen, oder es waren unabhängige Geschäftsleute, oft mit britischen Beziehungen, die ihr Unternehmen oder ihre Kenntnisse transferierten und sich so etablieren konnten, ohne große Probleme hervorzurufen (Carsten, 1983, S.138). Zwar ist keine dieser Charakterisierungen hundertprozentig auf Adorno anwendbar, aber in der Tendenz kann er dieser Gruppe sehr wohl zugerechnet werden. Adorno hatte Verwandte in England, er war ein Akademiker, der zumindest lose oder verwinkelte Kontakte zu englischen Universitäten hatte und sein Vater hatte über seine Geschäftsbeziehungen Kontakte zum AAC hergestellt. Damit fiel Adorno in die Gruppe der Einwanderer, die von der britischen Regierung und Öffentlichkeit begrüßt wurden und deren Einreise somit keine großen Hürden in den Weg gestellt waren. Die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung, die vom AAC für Adorno in regelmäßigen Abständen beantragt wurde, war zumindest in der ersten Zeit reine Formalsache, solange Adorno seine finanzielle Autonomie nachweisen konnte. Andererseits war seine Sorge berechtigt, denn natürlich lag es im Interesse der Behörden, dass keine Stellen von den Universitäten vergeben werden würden, die auch von englischen Akademikern zu besetzen gewesen wären, die sonst von der öffentlichen Hand hätten leben müssen. Unter diesen Umständen konnte es für Adorno nur ein schwacher Trost sein, dass Adams ihm im Antwortschreiben vom 21.6.1934 versicherte, dass für die Vergabe von Stellungen theoretisch nur die Qualifikationen ausschlaggebend seien, dass jedoch englische Bewerber einen leichten Vorteil hätten, da sie sich besser mit den universitären Strukturen auskennten (MS.SPSL 322/2, No 96-97).

Erschwerend für Adornos Suche nach akademischer Stellung war die überproportional häufige Wahl Großbritanniens als erstes Zufluchtsland für emigrationswillige Hochschulangehörige. 1938 fanden sich zunächst etwa die Hälfte der 2120 emigrierten deutschen Wissenschaftler in Großbritannien (Hirschfeld, 1988, S.29). Dies mag an der Politik Großbritanniens gelegen haben, die, wie gezeigt, die Einwanderung für Akademiker erleichterte aber auch an den Bemühungen des AAC. Nichtsdestotrotz erschwerte diese starke Zuwanderung weiterhin die Stellensuche. Mit dem Beginn des ersten Trimesters in England müssen Adorno viele dieser Implikationen bewusst geworden sein. Und nicht nur das, auch seine Stellung als „advanced student“, seine Schwierigkeiten mit der Sprache und dem Universitätssystem, sowie der Oxforder Philosophie, auf die ich im fünften Kapitel eingehen werde, trugen dazu bei, dass sich seine anfangs euphorische Stimmung wandelte. In krassen Widerspruch zu seiner Aussage, dass er sich nun wieder als Mensch fühle, steht ein Zitat aus einem Brief an Horkheimer nur fünf Monate später am 2.11.1934. Seine Existenz in Oxford sei „die eines mittelalterlichen Studenten und teilweise der verwirklichte Angsttraum, dass man wieder in die Schule muss, kurz das verlängerte dritte Reich.“ (Horkheimer, 1995a). Es scheint, als wäre Adorno in dieser Zeit nicht nur bewusst, sondern erfahrbar geworden, was Emigration bedeuten kann und dass die Entscheidung nach England zu gehen nicht nur ein weiterer Schritt seiner akademischen Laufbahn, sondern ein Bruch und Neubeginn, bei dem gleichzeitigen Versuch das alte Leben möglichst uneingeschränkt weiterzuführen, bedeutete.

Adornos Familie und Gretel waren weiterhin in Deutschland und Adorno nutzte fast alle Studienferien, um zumindest kurzzeitig nach Deutschland zu fahren. Es erstaunt nicht nur aus heutiger Sicht, dass Adorno den Mut aufbrachte bis zum Juni 1937 nach Deutschland zu fahren, und das nicht nur für kurze Besuche, sondern längere Aufenthalte, bei denen er sich Arbeit mitnahm oder mit Gretel Urlaub machte, wie im Frühjahr 1937 als die beiden das Reichsparteitagsgebäude in Nürnberg besichtigten. Dabei sprach Adorno andererseits schon im Mai 1935 davon, Gretel aus Deutschland herausholen zu wollen (Adorno an Horkheimer, 13.5.1935, Horkheimer, 1995a) und am 12.11.1935 schrieb Adorno an Horkheimer, ihm „graut vor der deutschen Reise“ und er habe „furchtbare Sorge um meine Eltern und Gretel.“ Er fügte hinzu: „Was einen eigentlich überhaupt noch am Leben hält außer der animalischen Angst es sich zu nehmen, ist mir dunkel.“ Am 11.1.1937 schließlich gesteht Horkheimer, dass sowohl er, als auch seine Frau große Angst hätten, sollte Adorno wieder nach Deutschland fahren. Unter diesen tiefen Bedenken erscheint es unglaublich, dass nicht sofortige Anstrengungen unternommen wurden, eine vollständige Emigration der Familie und Gretels zu unternehmen. Eine Erklärung mag die finanzielle Gebundenheit an Deutschland sein. Adornos Vater besaß dort seinen Weinhandel und es war zunehmend schwieriger, Devisen ins Ausland zu schaffen. Auch Gretel verkaufte ihre Fabrik erst im Frühjahr 1937 (Adorno an Horkheimer, 21.1.37, Horkheimer, 1995b). Trotzdem bleibt es unverständlich, dass Adorno, der schon im Ausland lebte, das Risiko auf sich nahm, immer wieder nach Deutschland zu fahren, zumal die Bedingungen immer schwieriger wurden und die vollständige Emigration als einziger Ausweg allen vor Augen gestanden haben musste.

Zu den äußeren erschwerten Bedingungen der Emigration in England zählten die schon eingangs besprochenen Maßnahmen sowohl von deutscher als auch von englischer Seite. So wurde es für Adorno z.B. immer schwieriger Devisen nach England zu schaffen, die dort jedoch nicht nur seinen Lebensunterhalt sicherten, sondern auch Bedingungen für die verlängerten Aufenthaltsgenehmigungen waren. Im Frankfurter Handelsblatt vom 27.9.1934 findet sich dazu folgende Notiz unter der Überschrift „Devisenbeschaffung außerhalb der Wareneinfuhr (Runderlaß 117/34D.St.)“: „Die Zahlung von Beträgen an im Ausland lebende Personen ist weitgehend erschwert. Versorgungsbezüge, Unterhaltsrenten usw. können nur dann als dringlich behandelt werden, wenn den Begünstigten eine Verlegung ihres Wohnsitzes in das Inland keinesfalls zugemutet werden kann und er auf den Empfang der Zahlungen dringend angewiesen ist. Zahlungen zu Unterstützungszwecken und Freigabe von Vermögenswerten zugunsten ausländischer Einzelpersonen können grundsätzlich nicht genehmigt werden, Ausnahmen nur bei vorliegen besonders dringender kulturpolitischer oder sozialer Gründe. (…) Für Auswanderer können Devisen, abgesehen von außergewöhnlichen Fällen, grundsätzlich nicht mehr zur Verfügung gestellt werden.“ (MS.SPSL 322/2, No.114). Dieser Zeitungsabschnitt wurde von Adorno ans AAC geschickt. Die Devisenbeschaffung schien zu einem ernsthaften Problem zu werden. In seinem Brief vom 24.11.1934 fragte Adorno bei Horkheimer nach, ob nicht Adornos Vater Zahlungen für das Institut in Deutschland vornehmen und Horkheimer dafür Geld aus Amerika an Adorno in Oxford schicken könne, was dieser aus verschiedenen Gründen ablehnte (Horkheimer, 1995a). Am 8.3.1935 kam für Adorno die nächste Erschwernis, die allerdings Licht darauf wirft, dass trotz der erheblichsten Zweifel an einer Zukunft in Deutschland, Adornos formaler Status nicht der eines Emigranten war und auch von Adorno nicht eindeutig so begriffen wurde. In der Times erfuhr er von dem Plan der Nationalsozialisten heimkehrende Emigranten in Schulungslager einzuliefern und er schrieb an Adams: „As you know, I did not emigrate (Hervorhebung – JR); my residence is still Francfort. I was there last summer as well as December and January, and I never lived in this country for a longer time (…) than 3 month.” (MS.SPSL 322/2, No.124). Zwei Monate später findet sich in der Frankfurter Zeitung vom 10.5.1935 die Bestätigung. Unter der Überschrift „Schulungslager für Emigranten“ steht dort: „(…) Da die Heimkehr dieser draußen enttäuschten Auswanderer in letzter Zeit sehr im Zunehmen begriffen sei, habe man sich zu ihrer einstweiligen Unterbringung in Schulungslagern entschlossen, schon deshalb, um den heimischen Stellenmarkt nicht weiter zu belasten. Als Stichtag für diese Maßnahme sei der 28. Januar 1935 festgesetzt worden, so dass alle nach diesem Termin heimgekehrten oder noch zurückkehrenden Emigranten sich darauf gefaßt machen müßten, interniert zu werden. (…).“ (MS.SPSL 322/2, No.148).

Eine letzte Episode vor der weiteren Emigration nach Amerika zeigt noch einmal deutlich, wie Adornos Aufenthalt in Oxford, die politischen Verhältnisse (insbesondere die Emigrantenbestimmungen) und die Rolle des AAC ineinander greifen. Gleichzeitig wird deutlich, auf welch schmalen Grad sich Adorno in formal rechtlicher Hinsicht bewegte, wie ambivalent sein Status als (Nicht-)Emigrant war und mit welchen persönlichen Spannungen, Zweifeln und physischen Gefahren er umgehen musste.

Am 12.2.1937 schrieb Adorno an Horkheimer, dass er die unbefristete Aufenthaltserlaubnis in England erhalten habe. Diese war ihm über den AAC organisiert worden. Die unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse davor hatten immer wieder dazu geführt, dass sich Adorno beim AAC und den Behörden bemühen und sich polizeilich melden musste. Es war die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung ein erster Schritt zur angestrebten Naturalisierung. Allerdings war die Bedingung für die Erteilung, dass Adorno keine Stellung (bezahlt oder unbezahlt) annehmen durfte. Außerdem war ein Schreiben von Adams an das Home Office nötig gewesen, in dem dieser Adornos sichere finanzielle Situation verbürgen musste. Adorno habe eine Summe von 4000 Pfund zur Verfügung und könne jederzeit weitere Beträge von seinem Vater erhalten. (Adams an das Home Office, Mn.SPSL 444/2, No. 209-210). Auch wenn Adorno nie materielle Not hatte, musste dies übertrieben gewesen sein und stand im Gegensatz zu dem, was Adams den deutschen Behörden verbürgte, damit Adorno seinen neuen Pass für weitere 5 Jahre erhielt. „Die Geschichte dieses Passes wird Sie interessieren.“ schrieb Adorno im genannten Brief an Horkheimer (Horkheimer, 1995b).

Für Adorno war es eigentlich, wie im oben zitierten Zeitungsartikel beschrieben, von den deutschen Behörden verboten, in England von den Zahlungen seines Vaters zu leben. Auch für jegliche Unterstützungen in England selbst benötigte Adorno die Genehmigung der Devisenstelle. Als Adorno Ende 1936 nach Deutschland kam, wurde er von seinem Rechtsanwalt darauf hingewiesen und er bemühte sich bei der Devisenstelle um eine Genehmigung den „maintenance grant“ des AAC annehmen zu dürfen, der ihm für die kommenden Trimester neu bewilligt worden war. Hellhörig geworden, wollte die Devisenstelle daraufhin von Adorno wissen, wovon er die Zeit davor gelebt habe. Adorno musste sich damit rausreden, dass er schon vorher die „maintenance grants“ des AAC erhalten habe, aber nicht gewusst hätte, dass er dafür eine Genehmigung hätte einholen müssen. Man kündigte Adorno an, dass die Sache entweder per Strafgeldverfahren von der Devisenstelle geregelt oder vor ein Polizeigericht getragen werden würde. Diese Möglichkeit hätte äußerst schwere Implikationen für Adorno haben können. Zum einen, da, wie Adorno selbst an Adams am 14.10.1936 schrieb, dies mit Gefängnis unbestimmter Dauer hätte entschieden werden können, aber auch da Adorno unbedingt seinen Pass verlängern lassen wollte, der im Januar 1937 auslief und ohne den die Ein- und Ausreise aus Deutschland ebenso unmöglich geworden wäre wie eine gesicherte Existenz im Ausland. Allerdings bot der Beamte der Devisenstelle nach Adornos Angaben das Bußgeldverfahren an, dessen Zahlung sich auf 150 RM belaufen sollte. Adorno bat Adams einen Brief aufzusetzen, in dem er für die in Frage kommenden Zeiträume die „maintenance grants“ bestätigte und klar machte, dass diese direkt an die Universität gezahlt würden und keinerlei Bezahlung für irgendwelche Arbeiten seien (denn auch das hätte einer Genehmigung bedurft), „so that they get the impression that I had, if at all, only very little money in my hand, (…).“ (MS.SPSL. 322/2, No 152). Adams schickte daraufhin einen sehr ausführlich und diplomatisch abgefassten Brief mit den inoffiziell hinzugefügten Worten: „I am willing to say anything that you wish in the circumstances.“ (MS.SPSL. 322/2, No.153-155). Adorno hoffte, dass diese Angelegenheiten vor seinem  Weihnachtsaufenthalt in Deutschland geregelt wäre. Zu Horkheimer schrieb er am 30.10.1936: „Obwohl nach dem letzten Brief meines Vaters die Sache geregelt scheint, möchte ich jedenfalls nicht nach Deutschland zurück, ehe ich ganz klar sehe (…) es ist immerhin fraglich, ob es geraten ist, sich gerade dann in den Rachen des Löwen zu begeben, wenn das Fleisch so knapp ist wie heute in Deutschland.“ (Horkheimer, 1995a). Am 12.2.1937 erhielt Adorno dann, schon wieder nach Oxford zurückgekehrt, den neuen Pass, sowie die Genehmigung den „maintenance grant“ anzunehmen, nachdem die Strafe von 150 RM bezahlt worden war. Erst im folgenden Jahr, als die Übersiedlung nach Amerika schon feststand, kamen die letzten Erschwernisse. Die Eltern verloren im Januar 1938 ihre Pässe, womit ihr Schicksal extrem gefährdet und die „ökonomische Basis“ für Adorno abgeschnitten war (Adorno an Horkheimer, 19.1.1938, Horkheimer, 1995b). Unter der Angst, Opfer eines Angriffs auf England zu werden, verließen Gretel und Theodor Adorno am 16.2.1638 England, wo sich unter den Vorzeichen des Krieges keine weiteren Chancen für Adorno hätten ergeben können.

Ich denke, dass sich Emigration nicht mit einer Sicht begreifen lässt, die eindeutig zwischen Heimat und Exil unterscheidet. Gerade Adornos Oxforder Jahre vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen zeigen deutlich, wie sich die Grenzen im wahrsten Sinne des Wortes verwischen können. Adorno versuchte während dieser Zeit bis zum Ende seines Englandaufenthalts formal nicht als Emigrant zu gelten und die behördlichen Bestimmungen zumindest nach außen zu befolgen. Trotzdem wurde ihm sehr schnell das Leben als Emigrant erfahrbar und spätestens ab 1935 erkannte er klar, dass eine baldige Rückkehr nach Deutschland ebenso unwahrscheinlich war wie eine kontinuierliche akademische Karriere im Ausland, die vergleichbar mit seinen Erwartungen in Deutschland gewesen wäre. Während eine plötzliche Flucht ins Exil unter Abbruch aller Verbindungen traumatisierend und befreiend zugleich sein kann, scheint mir eine Emigration wie die Adornos ambivalenter und schleichender. Die eigene Neupositionierung, der Bruch mit dem alten Leben und das Eingestehen des Emigrantenstatus ziehen sich in die Länge und können zu einem ermüdenden und frustrierendem Prozess werden. Adorno wies immer wieder im akademischen Zusammenhang auf die Isolation hin, unter der er in Oxford existiere. In den Minima Moralia schrieb er: „Er (der Emigrant – JR) lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muß, auch wenn er sich in den Gewerkschaftsorganisationen oder dem Autoverkehr noch so gut auskennt; immerzu ist er in der Irre.“ (Adorno, 1969, No.13). Dieser Prozess der Auseinandersetzung mit der Emigration und deren Umständen geschah bei Adorno auch vermittelt, indem er sich intensiv mit den philosophischen Strömungen in Oxford befasste.

Im Folgenden möchte ich zeigen, wie sich Adornos Zukunftsaussichten im Zusammenhang mit dem Institut für Sozialforschung kontrapunktisch zu seiner physischen Emigration entwickelten, da die Konsolidierung einer positiven Perspektive dort auch Einfluss auf Adornos Arbeit und Selbstverständnis in Oxford hatte.