Das Fleisch der Welt

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Wahrnehmung in Phänomenologie, Tiefenökologie und Goethes Naturwissenschaft

Dieser Text wurde 2004 veröffentlicht in Hagia Chora 15

Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Philosophie der Wahrnehmung und den Konsequenzen, die daraus für unseren Umgang mit Beobachtung, Wahrnehmung und Mustererkennung verbunden sind.

Sinnlicher Zugang zur Welt

Wenn man mit einem Philosophen über den sinnlichen Zugang zur Welt spricht, und damit über Wahrnehmung und Erkenntnis, befindet man sich unversehens in den tiefsten Gefilden der Philosophie, die über die Jahrhunderte gekennzeichnet sind von Grabenkämpfen, Interessenphilosophie und akademischem Dünkel. Dabei scheint die Frage nach einem sinnlichen Zugang zur Welt und den Faktoren die diesen Zugang konstituieren auf den ersten Blick möglicherweise knifflig aber im Großen und Ganzen harmlos. Und doch: Wer diese Frage stellt, dem geht es wie einem Fischer an dessen Angelhaken ein vermeintlicher Fisch hängt, der jedoch beim Einholen der Angelschnur erschreckt feststellen muss, dass sich der Haken in einem alten Fischernetz verfangen hat, in dem sich wiederum die versunkenen Artefakte und das Treibgut der letzten Jahrhunderte verheddert haben. Je mehr der Fischer an seiner Schnur zieht, um das Netz mit all seinen Schätzen und seinem Müll zu bergen, desto mehr fördert er zu Tage. Dem Fischer bleiben irgendwann nur zwei Möglichkeiten: entweder wirft er entmutigt alles wieder zurück ins Meer – seine Angel eingeschlossen, oder er schneidet den Teil des Netzes, der ihm am wertvollsten erscheint und gerade noch das Gewicht hat, um ihn nach Hause tragen zu können, ab.

 

Wie der Fischer müssen auch wir vorgehen, wenn wir uns die Frage nach dem sinnlichen Zugang zur Welt stellen. In diesem Artikel möchte ich daher nur bestimmte Beiträge innerhalb dieser großen philosophischen Debatte vorstellen, die unserem tiefenökologisch, geomantisch oder permakulturell geprägtem Interesse neue Einsichten und Impulse versprechen. Ich werde also viele Beiträge dieser Diskussionen beiseite lassen und einen phänomenologischen Ansatz wählen, der unser direktes, authentisches Erleben ins Zentrum stellt und dafür plädieren diesem mehr Raum und mehr Erklärungskraft zuzugestehen, als allgemein üblich. Ein solches Vorgehen ist natürlich nicht ohne Konsequenz für die fallengelassenen Bereiche, die Teile des Netzes also, die wieder im Meer versinken. Daher werde ich versuchen zu zeigen, wie sich das Netz möglicherweise wieder- von der neu entstandenen Perspektive aus – zusammenknüpfen lässt.

Optische Täuschungen

Als ich in der Schule das erste Mal von einer optischen Täuschung hörte, war ich verblüfft. Die Lehrerin hatte uns eine Kopie gegeben, auf der folgende Figur abgebildet war:

mltaeuschung

Abbildung 1

Jeder in der Klasse konnte auf den ersten Blick erkennen, dass der untere Strich länger war, als der obere. Daraufhin zog die Lehrerin triumphierend das Lineal hervor, legte es an die beiden Linien an und bewies uns damit, dass wir uns getäuscht hatten, da die Messung für beide Linien den gleichen Wert ergab. Wir waren alle der optischen Täuschung erlegen. Die Lehrerin hatte natürlich recht. Gemessen am Maßstab, den das Lineal für uns bereit hält, sind die zwei Linien gleich lang. Wer das in Frage stellen wollte, der dürfte nicht darauf vertrauen, dass sein Auto fährt und sein CD-Spieler funktioniert. Aber hatten wir uns tatsächlich alle getäuscht? Sogar heute noch, trotz „besseren“ Wissens, nehme ich die beiden Linien als unterschiedlich lang war. Maurice Merleau-Ponty schreibt darüber zu Beginn seiner Phänomenologie der Wahrnehmung: „Die beiden Strecken der Müller-Lyerschen Täuschung sind weder gleich noch ungleich lang; denn zwingend ist diese Alternative nur in der Welt der Objektivität.“ (Merleau-Ponty, 1966, S.24) Merleau-Ponty stellt in diesem Satz gleich zwei grundlegende Überzeugungen westlicher Philosophie in Frage. Zum einen hintergeht er mit seinem Weder-Noch das Zweiwertigkeitsprinzip der abendländischen Logik. Danach kann etwas falsch oder wahr sein, nicht jedoch beides zugleich oder keins von beiden. Des weiteren spricht er davon, dass die Welt der Objektivität nur Raum einer bestimmten Alternative sei. Alternative wozu?

Machen wir uns, bevor wir diese Frage beantworten, noch einmal klar, worum es hier eigentlich geht. Dabei müssen wir zwar zwangsläufig stark vereinfachen, aber es hilft uns das Problem im Kern zu verstehen: In der abendländischen Philosophie kann man von zwei Welten oder zwei Seinsebenen sprechen, die als voneinander getrennt betrachtet werden. Die eine Welt ist die Welt der Materie, die andere ist die Welt des Geistes. Man spricht deshalb auch vom Geist/Materie Dualismus, der gerade in ökologischen Kreisen oft scharf angegriffen wird. Mit dieser Konzeption hängen viele weitere Unterscheidungen zusammen, so spricht man z.B. von der materiellen als der äußeren Welt, der Welt also, auf die unsere Sinne gerichtet sind, während die innere Welt, die Welt des Verstandes ist. Auch die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt beruht auf dieser Grundkonzeption, mit der fast alle abendländisch geprägten Philosophien operieren. Dabei unterscheiden sich die einzelnen Denkrichtungen sehr stark voneinander. So behaupten z.B. Empiristen, dass sich aus subjektiver Sicht keine allgemeingültigen Erkenntnisse gewinnen lassen, sondern dass wir für den Erkenntnisgewinn Methoden und Werkzeuge benötigen, die der äußeren, objektiven, realen Welt angepasst sind. Das Lineal ist ein solches Werkzeug. Es gibt uns verallgemeinerbares Wissen über die Länge der gemessenen Objekte. Rationalisten betonen demgegenüber die Möglichkeit, die logische Ordnung der Welt aus reinen Prinzipien des Denkens zu erfassen. So dachte z.B. Descartes, dass er keinerlei sicheres Wissen über die äußere Welt erlangen könne. Nur das eigene Denken sei ein sicherer Anhaltspunkt der Erkenntnis. „Ich denke, also bin ich“ vollzieht nicht nur die absolute Trennung von Innen und Außen, es stempelt auch alles Äußere als mögliche Täuschung ab (ein Dilemma, aus dem sich Descartes nur mit Hilfe Gottes zu retten weiß). Ein anderer auf dem Dualismus beruhender Streit spielt sich zwischen Idealismus und Materialismus ab. Der Idealismus sah die Freiheit des Menschen als Subjekt ausschlaggebend. Die Ideen der Aufklärung beruhten darauf, dass man traditionelle, politische Hierarchien nicht mehr als naturgegeben betrachtete und man sich als frei denkendes Individuum über sie hinweg setzen konnte, ja, dass es sogar möglich sei, sich aus dem determinierten Naturzusammenhang selbst zu befreien. Demgegenüber erklärte Marx als Vertreter des Materialismus, dass die Materie das Bewusstsein bestimme. Wahrheit sei in diesem Sinne die Übereinstimmung des Denkens mit dem Objekt. Wer die Geschichte Europas betrachtet, der weiß, dass es sich bei diesen philosophischen Problemen nicht nur um akademisches Geplänkel handelte, sondern dass das jeweilige Denken massiven Einfluss auf das politische Geschehen und das Leben der Menschen ausübte.

Wenn Merleau-Ponty davon spricht, dass die Gleichheit der zwei Geraden nur eine mögliche Alternative in der Welt der Objektivität sei, dann drückt er damit nicht nur aus, dass er die empiristische Position als alleinige Erklärung der Welt ablehnt, sondern dass er eine Pluralität von Erkenntniszusammenhängen in Erwägung zieht. Dies ist aber nicht möglich, wenn wir weiterhin von zwei einander fremden Seinsbereichen oder Welten ausgehen, die sich gegenseitig ausschließen.

Zurück zu den zwei Geraden: nach unserem heutigen naturwissenschaftliches Verständnis, das von der Konzeption der zwei Welten geprägt ist, ist der Fall mit den zwei Geraden eindeutig. Es gibt eine Welt außerhalb von uns, die wir mittels wissenschaftlicher Methoden (hier dem Messen mit dem Lineal) objektiv erfassen können. Die gewonnene objektive Erkenntnis ist danach wahr, womit alle abweichenden Aussagen über die Geraden falsch sein müssen. Wir waren eben bei unserer sinnlichen Wahrnehmung unaufmerksam. Merleau-Ponty greift diese Position an, wenn er bemerkt, dass der Vorwurf der Unaufmerksamkeit erfunden sei, um das Vorurteil der objektiven Welt zu retten. „Wir müssen uns entschließen, die Unbestimmtheit als positives Phänomen anzuerkennen. Nur im Bereich dieses Phänomens begegnen uns Qualitäten.“ (Merleau-Ponty, 1966, S.24f) Merleau-Ponty kritisiert, dass wir unsere unmittelbare Wahrnehmung zurück stellen, um einer theoretischen Konstruktion Platz zu machen, die im Grunde nur eine Ausnahmesituation beschreibt, nämlich den Vergleich mit einem bestimmten Maßstab. Wenden wir uns statt dessen den Phänomenen direkt zu, so können wir Qualitäten innerhalb eines komplexen Wahrnehmungskontextes erfassen (Merleau-Ponty, 1966, S.27). Für Merleau-Ponty steht fest, dass die Wahrnehmung Zweideutigkeiten, Schwankungen und Einflüsse des Zusammenhanges erschließen kann. Erst damit aber wird Bedeutung möglich. Die objektivierende Wissenschaft gibt uns diese Möglichkeit nur in Bezug auf modellhafte Vorstellungen von Kausalzusammenhängen, wie sie in der Weltabgeschiedenheit der Laboratorien nachgestellt werden. Die beiden Strecken der Müller-Lyerschen Täuschung sind nicht gleich und nicht ungleich. Sie sind durch ihren Kontext (die Pfeilrichtung der beiden Enden) „anders“. Eine Kategorie, die in der objektiven Wissenschaft nicht vorgesehen ist.

Vor kurzem saß ich auf einer Isoliermatte in die das folgende Muster gestanzt war:

matte

Abbildung 2

Durch die dreidimensionale Ausprägung dieses Musters geschah es, dass ich je nach Licht- und Schattenverhältnissen beim Blick direkt von oben ineinandergeschachtelte Vierecke wahrnahm, während ich beim Blick schräg von der Seite mit Schraffuren gefüllte Quadrate sah. Jetzt, bei der zweidimensionalen Darstellung auf dem Bildschirm meines Computers stelle ich fest, dass ich die schraffierten Quadrate auf kurze Entfernung wahrnehme, während sich die ineinandergeschachtelten Vierecke bei weiterer Entfernung einstellen. Wie bei den zwei Geraden zeigt sich auch hier die Kontextabhängigkeit der unmittelbaren Wahrnehmung. Die empiristische Wissenschaft würde die Linien auf einem Koordinatenkreuz beschreiben und diese mathematische Beschreibung als Grundlage dessen annehmen, was wir wahrnehmen. Die unterschiedliche Wahrnehmung wäre dann wieder der Fehlbarkeit unserer Sinne, unserer unaufmerksamen Beobachtung oder unserer Assoziationskraft zuzuschreiben. Merleau-Ponty jedoch deutet die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen derart, dass sie in einem schon vorhandenen Sinnhorizont auftreten. „Die Bedeutsamkeit des Wahrgenommenen (…) liegt in Wahrheit jeder Assoziation zugrunde (…).“ (Merleau-Ponty, 1966, S.35) Die Gesamtheit eines Wahrnehmungszusammenhanges ermöglicht demnach erst Assoziationen und damit Bedeutung. Kants Forschungsprojekt war es, nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu suchen. Merleau-Ponty wendet nun diese Denkrichtung um. Sein Interesse gilt den Bedingungen der Wirklichkeit. Diese liegen ihm zu Folge im Handeln und in der unmittelbaren Wahrnehmung der Welt, deren Bedeutung sich uns in ihren jeweiligen Zusammenhängen erschließt und so Sinn stiftet. Gegen Descartes „Ich denke also bin ich“ wendet er ein, dass man erst lieben, glauben oder wollen und damit seine eigene Existenz vollziehen muss, bevor man denken kann, dass man glaubt, liebt oder will. Merleau-Ponty ermöglicht uns damit einen direkten sinnlichen und somit sinnvollen Zugang zur Welt. Welche Konsequenzen diese Haltung für ein ökologisches Bewusstsein und für bedeutungsvolles Handeln in der Welt hat, werde ich am Ende dieses Aufsatzes erläutern.