Unter Geschichtenerzählern kommt immer wieder die Frage nach der Urheberschaft und dem Copyright von Geschichten auf: dürfen traditionelle Geschichten oder Geschichten anderer Geschichtenerzähler einfach verändert und weitererzählt werden? Ich behaupte: JA! Sie müssen es sogar, wenn wir wieder echte mündliche Traditionen entdecken wollen.
Dies gilt natürlich nur, soweit es sich um frei erzählte Geschichten handelt, also nicht um Literatur, auswendig erlerntes Material oder Theatertexte.
Das man die Geschichten weitererzählen und verändern darf hat einen einfachen Grund: ein Plagiator ist niemals ein Geschichtenerzähler, sondern ein verlogener Rezitator. Er versucht etwas zu kopieren, ohne es selbst nachzuspüren oder der eigenen Erfahrung entsprechend zu variieren. Eine Geschichte wird meiner Meinung nach jedoch erst gut, wenn sie durch das eigenen Herz und den eigenen Mund gegangen ist und dann ist sie kein Plagiat mehr, egal wieviel Ähnlichkeit zu der vorher gehörten Geschichte nach wie vor besteht. Denn wenn eine Geschichte nicht mit der Persönlichkeit des Erzählers gewürzt ist, dann ist sie öder als ein Märchenbuch. Geschichten brauchen einen authentischen Erzähler als Matrix, sonst gehen sie ein. Und nur der ist ein Geschichtenerzähler, der im Stande ist, die Geschichte durch sich selbst sprechen zu lassen. Weil ich davon so überzeugt bin, habe ich keinerlei Angst eine Generalerlaubnis für das Weitererzählen meiner Geschichten auszusprechen. Und sollte ein anderer Erzähler meine Geschichte zu neuer Größe entwickeln, dann kann ich entweder in Demut lernen, im Zorn schimpfen oder gekränkt von dannen ziehen. Dem anderen aber diese brillante Geschichte zu verbieten wäre kleingeistig. Sie ist in dem Moment dann ja auch nicht mehr meine, sondern längst schon seine, sonst wäre sie ihm nicht so gut geraten.
Meine eigenen Regeln im Umgang mit der Urheberschaft von Geschichten lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
1. Ich verstehe das Geschichtenerzählen als lebendige Tradition. An dieser Tradition habe ich Teil, in dem ich mich bemühe alle Geschichten, die ich höre und weitererzähle, zu entwickeln, zu variieren und mit dem Leben zu füllen, dass durch meine Authentizität zum Ausdruck kommt.
2. Ich werde die Herkunft meiner Geschichten während des Erzählens offenlegen, wenn das in den Fluss der Erzählung passt. Vor oder nach dem Erzählen angesprochen, werde ich jedem die Herkunft meiner Geschichten so weit sie mir bekannt ist, in allen Details offenlegen, sowie Passagen und Wendungen nach ihren Urhebern identifizieren.
3. Ich erlaube ausdrücklich allen Hörern meiner Geschichten, ganze Geschichten oder auch einzelne Wendungen zu übernehmen, weiter zu erzählen und sie der eigenen Authentitzität und dem eigenen Können entsprechend zu entwickeln und zu variieren.
Und hier ist die von mir entwickelte PSL (Public Stories License) – angelehnt an die GPL (General Public License):
1. Eine Geschichte darf ohne jede Einschränkung bei jedem Anlass erzählt werden. Kommerzielle Nutzung ist hierbei ausdrücklich erlaubt.
2. Eine Geschichte darf kostenlos oder auch gegen Geld erzählt werden, wobei der rote Faden mitgeteilt oder dem Empfänger der Geschichte auf Anfrage zum Selbstkostenpreis erläutert werden muss. Dem Empfänger müssen dieselben Freiheiten gewährt werden – wer z. B. eine Geschichte gegen Geld hört, hat weiterhin das Recht, diese dann kommerziell oder auch kostenlos weiterzuerzählen. Lizenzgebühren sind nicht erlaubt. Niemand ist verpflichtet, Geschichten zu erzählen, weder im Allgemeinen, noch für irgendeine bestimmte Person – aber wenn er es tut, dann nur nach diesen Regeln.[2]
3. Der Inhalt einer Geschichte darf studiert und den eigenen Bedürfnissen angepasst werden.
4. Es dürfen auch die gemäß Freiheit 3 veränderten Versionen der Geschichte unter den Regeln von Freiheit 2 erzählt werden, wobei dem Empfänger der Geschichte der rote Faden der veränderten Version erläutert werden muss. Veränderte Versionen müssen nicht erzählt werden; aber wenn sie erzählt werden, dann darf dies nur unter den Regeln von Freiheit 2 geschehen.