Naturwissenschaft und Mythos (II)

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I.1.1.1. Urangst

Wenn man innerhalb der Mythosforschung nach einer zentralen Grundfunktion des Mythos sucht, stößt man immer wieder auf das Motiv einer dem Menschen innewohnenden Urangst, der er durch Mythen zu begegnen versuchte. Jamme beschreibt dieses Motiv in der Weise, dass der Mensch aus Angst vor den übermächtigen Naturkräften sein eigenes Wesen in die Natur hinein projiziert hat, um jenen damit den Schrecken zu nehmen. Der Mythos arbeitet daher nach Jamme mit Ähnlichkeitsbeziehungen und benutzt eine eigene Bildersprache, mittels derer der Mensch seine Fremdheit in der Welt überwindet. (Jamme, 1991a, S.12ff) Auch Freud sah in Unwissenheit und Furcht Triebkräfte für primitive religiöse Begriffe. (Jamme, 1991a, S.22) Der archaische Schrecken, der die Naturbeherrschung initiierte, spielte in der Folge vor allem in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno eine große Rolle, wie ich weiter unten ausführen werde.

Direkt auf den Mythos bezogen plädiert Blumenberg am ausdrücklichsten für das Urangstmotiv. Angst ist ihm zufolge eine Grundbefindlichkeit der Menschen. Diese Angst hat der Mensch mit dem aufrechten Gang erhalten, als er sich aus dem schützenden Wald, ausweichend vor dem Selektionsdruck, in die offene Steppe vorwagte. Die damit eintretende abrupte Unangepasstheit, das „Ausgesetztsein vor einem Absolutismus der Wirklichkeit“, hat nach Blumenberg dazu geführt, dass der Mensch versuchte, diese Erfahrung zu übersetzen und sich vom Unheimlichen zu distanzieren, indem er ihm Namen und damit Bedeutung gab. Durch Namen wird Blumenberg zufolge die Identität des Unerklärlichen belegt und angehbar gemacht. Auf diese Weise trägt der Mythos dazu bei, dass sich der Mensch in seiner neuen Umwelt behaupten kann. (Blumenberg, 1979, S.10f) Blumenberg schreibt: „Was durch den Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher herausgehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen in dem, was es mit ihm auf sich hat“. (Blumenberg, 1979, S.12)

Dass bestimmte Mythen erzählt wurden, um Naturerscheinungen zu erklären und ihnen damit den Schrecken zu nehmen scheint plausibel. In der Edda sind Blitz und Donner Zeichen dafür, dass Thor mit seinem donnernden Hammer Mjölnir gegen die gefährlichen Riesen kämpft, die den Menschen Schlechtes wollen. Diese Erklärung muss dem Gewitter zwar nicht den Schrecken nehmen, verknüpft es aber mit einer Assoziation des Geschützt- und Behütetwerdens durch die Götter. Ebenso plausibel scheint es, dass das Bewusstsein des eigenen Todes und der eigenen Endlichkeit dazu anregt, nach Erklärungen dafür zu suchen oder dies in einem Erklärungszusammenhang, wie Mythen ihn bieten können, zu deuten. Reinwald spricht davon, dass der Mythos versucht, die individuelle Diskontinuität der menschlichen Existenz mit der Kontinuität des Seins zu vermitteln. (Reinwald, 1991, S.85) Mythen als Geschichten bieten die Möglichkeit diese Gedanken und Deutungen in der Gruppe zu kommunizieren und sich damit eines kollektiven Verständnisses der Welt zu versichern. Doch rechtfertigt dies von einer generellen Urangst des Menschen auszugehen? Das menschliche Leben hat immer auch andere Aspekte beinhaltet wie Liebe, Geburt, Krankheit, Leiden, Freude, Ausgelassenheit, Hunger, Kampf, Freundschaft, Dankbarkeit und vieles andere. Diese Aspekte haben mit Sicherheit in ähnlicher Weise dazu angeregt, sie in Geschichten, Erklärungen und Deutungen zu fassen. Von einer Ur- oder Grundangst auszugehen, die allem kulturellen Schaffen und dem Wesen des Menschen an sich zu Grunde liegt, scheint daher zu weit gegriffen. Warum sollten die Menschen mythischer Kulturen mehr oder eine tiefere Angst empfunden haben als wir heute? Wenn es damals Naturkatastrophen und Hunger und die Weite der offenen Steppe gewesen sein mochten, die Angst und Unsicherheit verursachten, so mögen es heute Kriege, Umweltkatastrophen, weltumspannende Seuchen und die Komplexität einer globalen Welt sein, die uns unsere Endlichkeit und unser Ausgeliefertsein an einen „Absolutismus der Wirklichkeit“ immer wieder verdeutlichen. Ist dadurch jedoch all unser Handeln ausschließlich von Angst bestimmt? Wer könnte den Bezugsrahmen liefern, der uns annehmen lässt, die Menschen hätten in früheren Zeiten in größerer Angst gelebt als wir heute? Und wie könnten wir sichergehen, dass diese Annahme nicht auf der Projektion heutiger zivilisierter Menschen beruht, denen die Vorstellung eines Lebens „in der Natur“ möglicherweise weit mehr Angst macht, als den Menschen, die dieses Leben tatsächlich lebten? Vielmehr kann man davon ausgehen, und die Quellen deuten das an, dass auch positive Erfahrungen und glückliche Zeiten in Mythen thematisiert wurden und zu deren Entstehen beitrugen: Zeiten der Dankbarkeit für Wohlstand, gutes Wetter, Vielfalt der Nahrung, für Gesundheit und Geburten, Situationen wie Feiern, das Erreichen von Zielen und vieles mehr. Somit können Mythen nicht nur als Reflexe einer angstvollen Grundhaltung des Menschen gewertet werden, mag dies auch ein bedeutender Aspekt sein. Sie spiegeln statt dessen die Komplexität und die Vielfalt menschlicher Haltungen und Erfahrungen in der Welt und suchen nach Mustern, um diese Komplexität anschaulich, deutbar und kommunizierbar werden zu lassen.

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2 Antworten zu “Naturwissenschaft und Mythos (II)”