Naturwissenschaft und Mythos (VII)

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II.2. Aktor-Netzwerk-Theorien

Machten wir uns blind gegenüber dem Subjekt-Objekt Dualismus, wären wir gezwungen, jene Vielfalt der Weltbezüge zu erkennen, die wir bisher fein säuberlich getrennt haben und deren eindeutige (Farb-)Zuordnung die abendländische Philosophie mit einem unglaublichen Arbeitsaufwand über Jahrhunderte zu stabilisieren versuchte. Ich werde auf die Stabilisierungsarbeit zurückkommen. Im Moment interessiert jedoch die Vielzahl der Weltbezüge, mit der wir die Trennung in Naturwissenschaft und Mythos ersetzen können, um perspektivisch mehr Differenzierungsmöglichkeiten und damit erweiterte Erkenntnismöglichkeiten zu gewinnen. Ich habe im ersten Teil schon Vorarbeit geleistet, indem ich gezeigt habe, dass sich ebenso wenig von der Naturwissenschaft als von dem Mythos sprechen lässt, wenn damit nicht explizit zwei Sphären eines auf einem dualistischen Weltverständnis beruhenden Sortierungsversuchs gemeint sind. In Bezug auf die Naturwissenschaft habe ich außerdem darauf hingewiesen, dass sich von Welten sprechen lässt, haben wir einmal anerkannt, dass sich mit einer neuen Erklärung der Welt auch die Welt selbst ändert. Dies gilt analog auch für die mythologischen Weltbezüge. Ich habe auf die Absurdität hingewiesen, den Weltbezug eines mongolischen Ackerbauern mit dem eines nomadisierenden Wüstenreiters oder eines aztekischen Sonnenpriesters unter dem Begriff mythisch gleichzusetzen (außer man ist bereit, deren Weltbezüge solange zurechtzustutzen, bis sie in die Schublade „Der Mythos“ passen). Ich werde also im weiteren Verlauf von Weltbezügen und Welten sprechen und zwar ohne die adjektivischen Zusätze mythisch bzw. naturwissenschaftlich. Aber verliere ich damit nicht jede Differenzierungsmöglich-keit? Artet dieser Text dann nicht in Beliebigkeit aus? Nein, das Gegenteil ist der Fall. Ich habe an Differenzierungsmöglichkeiten gewonnen. Wie die Blinde kann ich jetzt nach allen nur denkbaren Kriterien differenzieren und unterdifferenzieren. Ich kann jetzt die Techniken, sowie den institutionellen und politischen Rahmen der ägyptischen Wasserbauingenieure zur Zeit des Pharaos Sesostris (um 1850 v.Chr.)[2] mit denen der chinesischen Staudammbauer am Jangtse im 21. Jahrhundert vergleichen – bisher musste ich die einen dem Mythos zurechnen und die anderen der Naturwissenschaft. Ich kann die Unterschiede zwischen den aztekischen Götter-welten und denen der australischen Ureinwohner ausarbeiten – bisher waren beide Kulturen vor allem erst einmal „mythisch“. Ich kann sogar – anders als die Blinde im Beispiel – nach wie vor rote und grüne Haufen machen. Diesmal allerdings mit der zusätzlichen Erkenntnis, dass dieses Häufchenmachen eine historische Praxis des abendländischen Dualismus ist und nicht in dem Glauben, ich würde damit der Beschreibung der Realität näherkommen.