Naturwissenschaft und Mythos (VII)

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II.2.1. Bruno Latour – Welten artikulieren

Die beiden Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour und Donna Haraway arbeiten an Konzepten, die einen solchen von Dualismen unabhängigen theoretischen Zugriff ermöglichen. In ihren Theorien machen dualistische Unterscheidungen nur ein Erkenntnismuster unter vielen anderen aus. In Hinsicht auf die inhaltlichen und konzeptionellen Perspektiven des Themas dieser Arbeit, halte ich daher ihre Ansätze für besonders aufschlussreich. Im Folgenden werde ich wichtige Aspekte dieser Arbeiten vorstellen und die sich daraus ergebenden Implikationen für das Thema Naturwissenschaft und Mythos – und damit wie bis hierhin expliziert von Welten und Weltbezügen – diskutieren. Die Begriffsklärungen am Ende des Kapitels II.2. bündeln einige weiterführenden Gedanken, die dann in das Resümee dieser Arbeit überleiten werden.

Die vielfältigen Weltbezüge könnten im Sinne Latours als hybrid bezeichnet werden. Sie bilden jeweils spezifische Gemengelagen aus Überzeugungen, Evidenzen, Vorurteilen, Erfahrungswerten, Sozialisierungen und Identifizierungen, Praktiken und Kommunikationen, also den Größen, die über die Funktionen dieser Weltbezüge geregelt werden. Sie können als solche betrachtet und miteinander verglichen werden. Wir könnten nach wie vor die Kategorien mythisch und naturwissenschaftlich heranziehen, um diese hybriden Weltbezüge zu sortieren, sollten dabei aber bedenken, dass wir diese Kategorien bewusst aus einer Vielzahl weiterer möglicher gewählt haben. Eine solche Wahl bringt immer eine Reihe von Implikationen mit sich: so bewegen wir uns z.B. immer innerhalb eines bestimmten Diskurses (in diesem Fall dem abendländisch-dualistischen), was weiterhin heißt, dass wir bestimmte Prämissen unhinterfragt übernehmen, andere aber ausschließen, was zur Folge haben wird, dass wir nur die in diesem Paradigma vorgesehenen Optionen und Perspektiven haben werden.

In Wir sind nie modern gewesen analysiert Latour dieses Paradigma der Moderne – im speziellen der modernen Anthropologie. Diese ist Latour zufolge „von den Modernen entwickelt worden, um jene zu erforschen, die als vormodern galten“.[3] Hier taucht also das Problem der Trennung zwischen archaischen, primitiven, amodernen Völkern und den modernen, aufgeklärten Menschen, bzw. zwischen der mythischen und der aufgeklärten Bewusstseinsstufe der Menschen wieder auf. Latour nennt dies die zweite große Trennung:

„Unaufhörlich verfolgt uns die Große Trennung zwischen »uns«, den Abendländern, und »ihnen«, allen anderen, vom chinesischen Meer bis nach Yucatan, von den Inuit bis zu den Ureinwohnern Tasmaniens. (…) Sie (die Modernen – JR) behaupten nicht nur, sich von den anderen zu unterscheiden wie die Sioux von den Algonkin, oder die Baoule von den Lappländern, sondern sie unterscheiden sich radikal, absolut. So dass auf der einen Seite die Abendländer stehen und auf der anderen alle Kulturen; denn allen Kulturen ist gemein, nur eine Kultur unter anderen zu sein. Allein das Abendland wäre demnach keine Kultur oder nicht bloß eine Kultur.“[4]

Dass sich das Abendland auf diese Weise selbst sieht, liegt Latour zufolge an einer Analogie dieser zweiten großen Trennung, zur ersten große Trennung der Modernen. Wir (als moderne aufgeklärte Abendländer) haben demnach ausführlich daran gearbeitet, Natur und Gesellschaft voneinander zu trennen. Latour nennt dies die moderne Praxis der Reinigung. So sind wir ständig bemüht, möglichst exakt menschliche und nichtmenschliche Wesen, Natur und Gesellschaft, Wissenschaft und Politik voneinander zu trennen.[5] Auf die Spitze getrieben könnte man sagen, dass wir ständig darum bemüht sind, die Welt so einzurichten, dass sie unserer ontologischen Überzeugung, dass die Welt eben dieserart getrennt ist und schon immer war, nachkommt. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass wir einerseits gesellschaftlichen Einfluss auf Forschung leugnen und andererseits bemüht sind politische Autonomie vor dem Einfluss naturwissenschaftlicher Fakten zu bewahren. So haben wir also zwei große Trennungen. Die eine verläuft intern und bezeichnet die Trennung zwischen Natur und Gesellschaft auf der Ebene der Dinge, Fakten, Tatsachen, Überzeugungen, Handlungen etc. Die zweite große Trennung trennt uns analog von den anderen Naturen/Gesellschaften.[6] Diese zeichnen sich nach moderner Sicht eben dadurch aus, nicht zwischen Natur und Gesellschaft zu unterscheiden und können somit auch weder kritisch sein, noch wahre Wissenschaft betreiben. Nun weist Latour jedoch innerhalb der ersten großen Trennung auf ein Paradox hin, das die Modernen erst wirklich zu Modernen macht: Neben der Praktik der Reinigung läuft ihm zufolge gleichzeitig eine Praktik der Übersetzung ab. Diese schafft „vollkommen neue Mischungen zwischen Wesen: Hybriden, Mischwesen zwischen Natur und Kultur“.[7] Diese Hybriden bilden Netzwerke, die dann wieder mühsam der Reinigung unterzogen werden müssen. Latour führt aus:

„Der winzigste Aidsvirus bringt uns vom Geschlecht zum Unbewussten, von dort nach Afrika, zu Zellkulturen, zur DNS, nach San Francisco. Aber Analytiker, Denker, Journalisten und Entscheidungsträger zerschneiden das feine Netz, das der Virus zeichnet. Übrig bleiben nur säuberlich getrennte Schubladen: Wissenschaft, Ökonomie, soziale Vorstellungen, vermischte Nachrichten, Mitleid, Sex. Man braucht bloß irgendeine harmlose Spraydose zu drücken, und schon ist man unterwegs zur Antarktis, von dort zur University of California in Irvine, zu den Fließbändern in Lyon, zur Chemie der Edelgase und dann vielleicht zur UNO. Doch dieser fragile Faden wird in ebenso viele Teile zerstückelt, wie es reine Fachgebiete gibt. Bringen wir bloß nicht Erkenntnis, Interesse, Justiz und Macht durcheinander! Vermengen wir bloß nicht Himmel und Erde, Globales und Lokales, Menschliches und nicht Menschliches! »Aber nicht wir vermengen«, kann man darauf nur antworten, »aus diesem Gemenge, aus diesen Verwicklungen besteht unsere Welt.« »Wir tun so, als gäbe es sie nicht«, antworten die Analytiker. Mit einem scharfen Schwert haben sie den gordischen Knoten zerschlagen. Die Deichsel ist entzweigebrochen: links die Erkenntnis der Dinge, rechts Interesse, Macht und Politik der Menschen.“[8]

Hybride sind bei Latour all diejenigen Dinge, die aufgrund ihrer vielfältigen Verknüpfungen eigentlich nicht eindeutig einer der beiden Seiten – Natur bzw. Gesellschaft – zugeordnet werden können. Gerade unsere sich globalisierende Zivili-sation mit ihren immer neuen technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften führt nach Latour zu einer rapiden Verbreitung dieser Hybriden, also zu Verbin-dungen zwischen Gesellschaft, Politik, Wissenschaft, Technik, Psyche und Natur und damit zu einem immer komplexer werdenden Netz von Beziehungen. Das Ozonloch und die chemische Industrie, die Landwirtschaft und die Ölindustrie, die Gesundheit des menschlichen Körpers und die Genomforschung sind bekannte Vertreter dieser Vermischungen zwischen  Natur und Gesellschaft, Wissenschaft und Politik.