Naturwissenschaft und Mythos (VII)

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Ich möchte dieses Thema mit meiner Aussage verknüpfen, dass sich mit unterschiedlichen Erklärungen der Welt und ontologischen Bezügen zur Welt auch die Welt selbst ändert. Nur wenn wir diese Aussage akzeptieren, lässt sich berechtigterweise von Welten im Plural sprechen. Ich habe versucht, mit Hübner und Kuhn zu zeigen, dass jedem Weltbezug ontologische Grundannahmen zugrunde liegen: Prämissen, die die Art und Weise konstituieren, wie wir uns in der Welt verhalten, welche Wahrheitsansprüche wir gelten lassen, welche Werte und Normen zählen und auf welche Weise wir Erkenntnis für möglich halten. Gleichzeitig hat sich aber auch gezeigt, dass wir, z.B. durch Anomalien in der Forschung oder durch Theorieinkonsistenzen beständig gezwungen sind, gerade diese Prämissen, auf denen unsere Erklärungen basieren, anzupassen bzw. sie vollkommen neu zu entwerfen. Dies gilt übrigens nicht nur für die Wissenschaften. Anomalien kann es in jeder Art von Weltbezug geben, wie z.B. in gesellschaftlichen oder religiösen. So könnte man die Freiheitsbestrebungen während der französischen Revolution als Anomalien im feudal-absolutistischen Weltbezug werten, dessen ontologische Ordnung keinen Platz für die Idee autonomer hierarchiefreier Subjekte vorsah. Konkrete Erfahrungen und ontologische Prämissen eines Weltbezugs werden also immer reziprok aufeinander abgeglichen. Dabei kann es, klaffen Prämissen und Erfahrungen auseinander, zu Revolutionen des Weltbezugs im Kuhnschen Sinne kommen. Meist beschränken sich diese Revolutionen jedoch auf Teilbereiche persönlicher Welt-bezüge. Auch Kuhn hatte eingeschränkt, dass sich von einer neuen Welt nur insofern sprechen lässt, wenn man die Wissenschaftler auf ihr wissenschaftliches Tun beschränkt.[14] Religiöse, soziale, persönliche und andere Aspekte des Weltbezugs können, müssen davon aber nicht tangiert sein. So haben wir bei Hübner an Einstein gesehen, dass gerade dessen religiöser Weltbezug ihm soviel Stabilität zu geben vermochte, dass er in der Lage war, innerhalb seines wissenschaftlichen Weltbezugs eine Revolution in Kauf zu nehmen. Nach dem letzten Abschnitt können wir dies nun als ein Merkmal der hybriden Netze identifizieren, die unsere zunehmend heterogenen Weltbezüge konstituieren. Insofern liegt in der Heterogenität auch ein Element der Stabilität: der Verlust einer bestimmten Überzeugung muss nicht zwingend zum Verlust unseres gesamten Weltbezugs führen.[15]

Doch dies alles zugestanden, erklärt sich noch nicht, warum durch den Prozess sich wandelnder Weltbezüge sich auch die Welt selbst ändern sollte. Die herkömmliche Antwort wäre, dass sich die Welt als Natur objektiver Dinge und Fakten keineswegs ändert, sondern nur wir, die wir immer wieder auf der Suche nach gültigen Weltbezügen sind. Aus dieser Position könnte man meiner Behauptung mit der Anschuldigung entgegentreten, ich verträte einen radikalen Konstruktivismus, nach dem es uns Menschen möglich wäre, die Welt frei durch unsere Weltbezüge zu konstituieren. Um dem Vorwurf des Konstruktivismus zu entgehen, ist es nötig zu zeigen, dass die Konstruktion von Welten nicht einseitig auf Subjekte zurückzu-führen ist, sondern dass vielmehr alle Akteure, also menschliche und nichtmensch-liche Wesen, an dieser Konstruktion beteiligt sind. Diese kollektive Konstruktion lässt sich als polydirektionaler Austausch mit der Natur, wie ich sie am Ende des Abschnitts über die Dialektik der Aufklärung gefordert habe, beschreiben. Auch Kuhn hat bei der Etablierung neuer Paradigmen davon gesprochen, dass Wissen-schaftler in einen Dialog mit der Natur treten. Diese Aussage gilt es hier zu konkretisieren und gleichzeitig mit meiner Mythendefinition zu verknüpfen, in der ich davon gesprochen habe, Mythen als eine spezifische künstlerisch-diskursive Praxis anzusehen, deren Funktion darin liegt, als symbolisches Denken sowohl kulturelle und persönliche Erfahrungen mit der Natur abzugleichen, als diese auch zu kommunizieren. Dabei war die Frage offen geblieben, wie man sich diesen Abgleich vorstellen kann. Ich möchte diesen Themenkomplex anhand eines Beispiels von Bruno Latour explizieren. Denn Latours Analyse des Forschungsberichts Mémoire sur la fermentation appelée lactique von Louis Pasteur wirft eindrücklich Licht auf die hier gestellten Fragen.

Pasteurs Bericht beschreibt die Entdeckung des Milchsäureferments um 1858. Nach Liebig wurde zu dieser Zeit die Gärung als rein chemischer Prozess angesehen, der ohne jegliche Einwirkung von Leben abläuft. Pasteurs Bericht widerspricht dieser Theorie jedoch und führt das Milchsäureferment als lebendigen und für die Milchsäuregärung verantwortlichen Organismus ein. Latour versucht nun nachzu-vollziehen, wie sich im Bericht Pasteurs das Ferment aus Attributen zu einer Substanz konstituiert. Latour stellt dabei fest:

„Wir haben es hier mit keinem Objekt zu tun, sondern mit einer Wolke flüchtiger Wahrnehmungen, die noch keine Prädikate einer zusammenhängenden Substanz darstellen. (…) Etwas weiteres ist nötig, um x ein Wesen zu verleihen, um einen Akteur daraus zu machen: eine Reihe von Laborversuchen, durch die Objekt x seine Standfestigkeit beweist. Im nächsten Absatz übersetzt Pasteur es zunächst in einen Aktionsnamen, wie ich es anderswo genannt habe: noch wissen wir nicht, was es ist, doch wir wissen aus den durchgeführten Laborversuchen was es tut.“[16]

In einem weiteren Schritt zieht Pasteur einen Vergleich der Eigenschaften des noch unbestimmten Stoffes zu den Eigenschaften der Bierhefe und kommt zu dem Schluss, dass eine so starke Ähnlichkeit besteht, dass beide in eine gleiche taxono-mische Ordnung eingegliedert werden können. Latour schließt daraus: „Zunächst besteht die Entität aus flottierenden Sinnesdaten, dann wird sie als Aktionsname verstanden und schließlich in ein organisches, pflanzenähnliches Lebewesen verwan-delt, das einen festen Platz in einer feststehenden Taxonomie einnimmt“.[17] Der ontologische Status wechselt damit beständig. Pasteurs Forschungspragmatismus besteht Latour zufolge darin, das Wesen (des noch zu entdeckenden Ferments – JR) in dessen Existenz zu sehen und die Existenz im Handeln. Als Experimentator muss er daher eine Geschichte inszenieren, durch die der Akteur (das spätere Ferment – JR) „zur Mitwirkung in neuen und unerwarteten Situationen gebracht wird, die ihn in Aktion definieren werden“.[18] Pasteur muss Latour zufolge daher zweierlei tun: einerseits muss er eine Geschichte erzählen, in deren Logik sich die Figuren durch die Leistungen, die sie vollbringen definieren. Nur so wird aus den Eigenschaften eines trüben Stoffs das Ferment der Milchsäuregärung: „Der erste Versuch ist also eine Geschichte, er gehört zur Sprache und ist den Prüfungen eines Helden im Märchen oder Mythos vergleichbar. Der zweite ist eine Situation und besteht aus nonverbalen, nichtsprachlichen Komponenten (Glaskolben, Hefen, Pasteur, Laborge-hilfen)“.[19] Doch damit ist das gesamte Experiment noch nicht abgeschlossen. Nachdem Pasteur durch den Versuchsaufbau seiner Experimente eine Bühne für einen neuen Akteur geschaffen hat, der später Ferment heißen wird, weil er auf dieser Bühne in bestimmter Weise aktiv sein wird, ist er andererseits gezwungen, den Mitgliedern der Akademie zu verdeutlichen, dass dies nicht eine bloß von ihm entworfene Geschichte ist. Latour führt aus: „Selbstverständlich ist die Versuchsan-ordnung im Labor fabriziert und künstlich, doch Pasteur muss nachweisen, dass die Kompetenz des Ferments dessen Kompetenz ist und keinesfalls nur seiner eigenen Geschicklichkeit geschuldet ist, einen Versuch für das Auftreten des Ferments zu erfinden“.[20] Nur wenn er solcherart die Mitglieder seiner wissenschaftlichen Gemeinschaft überzeugen kann, wird das Ferment eine eigenständige Substanz und Pasteur der Entdecker dieser Substanz. Beide erhalten damit neue Kompetenzen[21], gelingt Pasteur die Überzeugung jedoch nicht, hätte Pasteur nur eine amüsante Geschichte erzählt.[22] Latour verdeutlicht:

„Kein Experiment lässt sich allein im Labor studieren, noch allein in der Literatur oder allein in der Debatten unter Kollegen. Selbstverständlich ist ein Experiment eine Geschichte, eine Erzählung und als solche erforschbar, doch als eine Geschichte, die an eine Situation gebunden ist, in der neue Aktanten furchtbaren Prüfungen unterzogen werden, die ein geschickter Bühneninspizient ersonnen hat. Woraufhin der Inspizient dann seinerseits wiederum schrecklichen Prüfungen seitens seiner Kollegen unterzogen wird, wenn sie testen, wie es um die Bindungen zwischen der (ersten) Geschichte und der (zweiten) Situation bestellt ist. Ein Experiment ist ein Text über eine nichttextuelle Situation, der später von anderen getestet wird, um zu entscheiden, ob es bloß ein Text war oder mehr ist. Erweist sich der abschließende Versuch als erfolgreich, dann ist es nicht nur ein Text, sondern es steht eine wirkliche Situation hinter ihm.“[23]