Naturwissenschaft und Mythos (VII)

/

Das Problem, das wir haben, wenn wir sagen, dass es das Ferment nicht vor Pasteur gegeben hat, liegt darin, dass wir eine Substanz annehmen, die Eigenschaften trägt. Latour geht statt dessen davon aus, dass es Eigenschaften gibt, die sich in den jeweiligen Performanzen zeigen, aus denen durch Artikulation erst eine Substanz wird. Wenn Latour somit von einer Substanz spricht, dann meint er damit nicht ein reales Ding, das den Eigenschaften zugrunde liegt, sondern ein Ensemble von Eigenschaften, die durch Artikulation versammelt wurden. Artikulationen fassen gleichsam Ensembles von Performanzen zusammen, ziehen Grenzen um diese und benennen sie damit als eigenständige Entitäten. Und da diese Artikulation immer verschieden ausfällt, ist auch die Welt, mit der wir es zu tun haben, immer eine andere. Bei etwas so Konkretem wie dem Milchsäureferment erzeugt ein solches Verständnis erst einmal Unbehagen. Schauen wir uns jedoch Konzeptbegriffe wie Masse, Energie, Teilchen, Welle, Licht etc. an, wird Latours Ausführung sofort plausibel. Licht kann, je nachdem, wie es durch Wissenschaftler, Laborgeräte, Hypothesenstellungen und Erkenntnisinteressen artikuliert wird, mal als Welle, mal als Teilchen erscheinen, bzw. sollte man sagen, dass im einen Fall Wellenper-formanzen unter dem Eigennamen Licht umgrenzt werden und im anderen Fall Teilchenperformanzen, im dritten Fall können auch alle Performanzen zusammengezogen werden und uns ein Licht bescheren, das sowohl Welle als auch Teilchen sein kann. Jedes Mal aber ist das Licht ein anderes, auch wenn es gewisse Performanzen und Eigenschaften teilen mag! Gleiches ließe sich über Newtons und Einsteins Masse sagen, über Atome als Kugelwolken, sphärisch kreisende Teilchen-systeme oder Wellenfunktionen, über die Demokratie der Weimarer Republik, der amerikanischen Verfassungsväter und der Bundesrepublik Deutschland, über den Morgen- und den Abendstern oder über die Odyssee, wie sie von Homer und wie sie von Horkheimer und Adorno erzählt wird. Genau darum ist es angebracht, von Welten und Weltbezügen zu sprechen (ob wir ihnen nun die Adjektive mythisch und naturwissenschaftlich anhängen wollen oder nicht). Dies würde keineswegs in Beliebigkeit oder der Unmöglichkeit von Forschung resultieren. Im Gegenteil: Jeder Versuch, nicht von Welten zu sprechen, muss als Angriff auf die Artikulations-möglichkeiten menschlicher und nichtmenschlicher Wesen gedeutet werden, als Versuch, neue Propositionen zu unterbinden und die vielfältigen Optionen, die sich aus neuen Verbindungen und Grenzziehungen ergeben, zu beschränken.

Zugegebenermaßen sind wir darauf angewiesen, einmal artikulierte Akteure möglichst eindeutig zu definieren, das heißt, sie zu umgrenzen und diese Grenzen möglichst stabil zu halten. Latour spricht in diesem Zusammenhang von der Institutionalisierung der Substanz (z.B. des Ferments).[34] Dabei begreift Latour Institutionalisierung vor allem als etwas Positives. Es ist der Prozess, durch den Akteure Substanz erhalten und ihre Grenzen als eigenständige Entität bestimmt werden.[35] Substanz ist damit ein Name für die Stabilität einer Zusammensetzung bzw. eines Ensembles von Propositionen.[36] So bestand Pasteurs Arbeit als Wissen-schaftler auch darin, das Ferment, wie es in seinem Labor artikuliert wurde, fest zu institutionalisieren. Dazu waren Annahmen nötig, die über die Tatsachen hinaus-gingen, sowie Laborgeräte, überzeugte Mitglieder der Akademie etc. Um die Stabilität institutionalisierter Akteure zu erhöhen, ist es somit nicht ausreichend, dass in einem Labor Versuche durchgeführt oder dass Akademiemitglieder überzeugt werden. Vielmehr müssen weiterhin und konstant neue Verbindungen aufgebaut und erhalten werden, d.h. die institutionalisierten Akteure müssen in möglichst viele Praktiken eingebunden werden. Es reicht nicht, das Ferment benannt (artikuliert) und damit als Akteur auf die Weltbühne gelassen zu haben, es muss nun auch als Ferment im Alltag anderer Wissenschaftler, der Milchindustrie, Milchproduktekonsumenten, durch Hygienebestimmungen, milchverarbeitende Maschinen etc. als eigenständiger Akteur anerkannt und eingebunden werden. Nur dann bleibt es dauerhaft, aber nicht unbegrenzt, stabil. Dieser Prozess vollzieht sich Latour zufolge auch als rückwärts-gerichtete Verursachung in der Zeit. Akteure früherer Forschungen werden durch neue ersetzt (z.B. Newtons durch Einsteins Masse). Auf diese Weise entsteht der Eindruck wissenschaftlichen Fortschritts. Tatsächlich aber wird die Geschichte selbst verändert. Denn zur Zeit Liebigs gab es noch kein Pasteursches Ferment. Nachdem Pasteur sein Ferment allerdings „entdeckt“ hatte, verortete er es auch schon in den Laborgeräten Liebigs, um dessen Versuche im nachhinein umzudeuten und sein Ferment auch innerhalb der Geschichte zu stabilisieren. Damit machte Pasteur sein Ferment zum „Substrat der unwissentlichen Handlungen anderer“.[37] Latour zeigt, wie sich damit Geschichte gleichsam sedimentiert. Einerseits schreitet die Zeit zwar weiter, doch mit jedem veränderten Blick zurück verändert sich auch die Vergangenheit und zwar insofern, dass sie die Gegenwart legitimiert und kausal erklärt. So hat nach Latour das Jahr 1864 nur die Urzeugung als Erklärung für die Prozesse der Milchsäuregärung gehabt. Das Jahr 1864 im Jahr 1867 gesehen, besaß keine reale Urzeugung mehr, sondern Fermente und den Fehlglauben an die Urzeugungstheorie. Das Jahr 1864 im Jahr 1998 gesehen, besteht hingegen aus Enzymologie, Präbiotik und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts.[38]

Nur durch diese Institutionalisierungen von Akteuren können wir gewährleisten, dass sinnvolles Handeln überhaupt für uns möglich wird, denn wir brauchen eine Welt, die sich annähernd gut antizipieren lässt, um Erkenntnis-möglichkeiten, Handlungsoptionen und Identifizierungen zu gewährleisten. Insofern zeigt sich, dass Naturwissenschaft als geschichtenerzählende und damit polydirektio-nale kommunikative Praxis ebensolche Funktionen übernimmt, wie es die geschichtenerzählende Praxis in Mythen tut, wenn auch mit anderen Methoden, Regeln und Verfahrensweisen. Allerdings muss jeder Versuch, Akteure absolut zu institutionalisieren und damit zu stabilisieren, weit über das Ziel dieser Funktionen hinausschießen. Die Zuordnung der Adverbien „niemals, nirgends, immer, überall“[39],  mit denen der moderne Positivismus und Realismus arbeitet, würgt nicht nur die Dynamik der Akteure ab. Eine absolute Institutionalisierung der Welt (im Singular) bedeutet auch gleichzeitig den Aufbau von Zentren der Macht. Ein einzelner Weltbezug wird damit über alle anderen möglichen Weltbezüge erhoben, seine Kategorien werden zum Maßstab der Beurteilung aller anderen Weltbezüge und ihrer Kategorien. Macht, Herrschaft und Deutungshoheiten werden einseitig verteilt.[40] Was Horkheimer und Adorno den totalen Verblendungszusammenhang des Mythos genannt hatten, der auch in der Aufklärung zu finden sei, ist mitnichten mythisch! Totalität ist vielmehr die Tendenz eines jeden Weltdeutungssystems, die teilweise notwendige Institutionalisierung der Akteure einer Welt zu übertreiben, ihre Grenzen so scharf zu ziehen, dass Dynamik und Offenheit unmöglich werden. In dieser totalitären Praxis des Einfrierens von Amorphizität sowohl der Akteure und ihrer Netze/Welten als auch der Weltbezüge, liegt das fundamentale Risiko von dem, was wir in abendländischer Tradition den Mythos als auch die Naturwissenschaft/ Aufklärung genannt haben. Wenn Horkheimer und Adorno davor warnen, die Dialektik nicht zum Abschluss zu bringen, dann warnen sie genau vor dieser Gefahr des absoluten Abschließen-, Einordnen- und Begrenzenwollens. Nur tun sie dies vor dem Hintergrund einer Welt, die tatsächlich dualistisch aufgebaut ist, während Latour auf die Vielfältigkeit der Positionen der beteiligten Akteure und die Beziehungsnetzwerke unter diesen verweist. Im Kapitel über die Dialektik der Aufklärung habe ich eine kommunikative Praxis als polydirektionalen Austausch mit der Natur gefordert, um über das bloße „Eingedenken der Natur im Subjekt“[41] hinaus zu gelangen. Latour zeigt u.a. mit Pasteurs Forschungsbericht, wie sich wissenschaftliche Arbeit dieserart deuten lässt. Das Milchsäureferment, Pasteur, die Laborgeräte und die Akademiemitglieder sind nur einige Akteure, die sich im genannten Beispiel an diesem Austausch mit ungleich verteilten Befugnissen beteiligen, um neuen Akteuren und Bedeutungen Geltung zu verschaffen. Im Grunde genommen haben wir diesen Austausch, das Abgleichen von Erfahrung mit der Natur in einer kommunikativen Praxis also schon immer praktiziert. Nur haben wir diese Praxis verleugnet, während wir sie ausführten und den Subjekten allein die dabei erzielten Erfolge zugeschrieben. Das dadurch entstandene Machtgefälle ist, wenn ins Extrem getrieben, die Basis totalitärer und absoluter Herrschaftsansprüche über alles was als Objekt identifiziert wird, sei dies die äußere Natur, die innere Natur, oder Menschen anderer Hautfarbe, anderen Geschlechts, anderer Religion etc. Es geht also nicht darum, bewährte Praktiken (z.B. der Naturwissenschaften) zu ver-werfen, sondern sich ihrer Mechanismen bewusst zu werden und sich dieser Praktiken und aller daran beteiligten Akteure zu erinnern, anstatt einer Natur, wie es Horkheimer und Adorno fordern. Denn wir können schon jetzt sehen, dass der Begriff Natur ebenfalls einer Evaluation bedarf. Bleiben wir dabei, von Akteuren anstatt von Subjekten und Objekten zu sprechen, müssen wir den Begriff Natur als Begriff dualistischer Weltbezüge ebenfalls fallen lassen. Wir kommunizieren daher aus dem Blickpunkt der Aktor-Netzwerk Theorien auch nicht mit der Natur, sondern mit anderen Akteuren, die an unserer Welt teilhaben. Totalitarismus, Fundamenta-lismus und Absolutismus als Risiken von Weltbezügen sind dann dadurch zu vermeiden, dass wir uns der Akteure, der Praktiken, mit denen die Akteure in Welten verbunden sind und der durch diese Praktiken ausgegrenzten Performanzen erinnern.


  • [1] Haraway, 1997, S.4
  • [2] Radkau, 2002, S.116
  • [3] Latour, 1998, S.123
  • [4] Latour, 1998, S.130
  • [5] Latour, 1998, S.19
  • [6] Latour, 1998, S.133
  • [7] Latour, 1998, S.19
  • [8] Latour, 1998, S.9
  • [9] Latour, 1998, S.20
  • [10] Latour, 2002, S.372
  • [11] Latour, 1998, S.71
  • [12] Latour, 2001, S.285
  • [13] vgl. Latour, 2002, S.7ff
  • [14] Kuhn, 1967, S.123
  • [15] Haraway würde in diesem Zusammenhang von einer Diffraktion der Identität sprechen. Die Diffraktion als Begriff der Beugung des Lichts nutzt sie als Metapher, um Verschiebungen von identitätsstiftenden Grenzen (in diesem Fall der Weltbezüge) zu beschreiben. Haraway, 1995b, S.140. Ich werde später noch auf diese Metapher zurückkommen.
  • [16] Latour, 2002, S.144
  • [17] Latour, 2002, S.147
  • [18] Latour, 2002, S.148
  • [19] Latour, 2002, S.148
  • [20] Latour, 2002, S.149
  • [21] Bevor sich etwas (z.B. durch ein Experiment) zu einer Substanz entwickelt, zeichnet es sich nach Latour durch Performanzen aus. Performanzen des noch nicht entdeckten Ferments sind es z.B., Bestandteil der Milchsäuregärung zu sein, Blasenwerfung zu verursachen und ein trübes Aussehen zu haben. Erst wenn ein Ensemble aus Performanzen zu einer Substanz gerinnt, wenn also aus dem beobachteten Verhalten des Ferments auf das Ferment selbst zurückgeschlossen wird, wandeln sich die Performanzen in Kompetenzen des Ferments selbst. Latour, 2002, S.372 (Aktionsname).
  • [22] Latour, 2002, S.149
  • [23] Latour, 2002, S.149f
  • [24] (§ 22) zitiert nach Latour, 2002. S.154f, Hervorhebungen Latour.
  • [25] Latour, 2002, S.155f
  • [26] Latour, 2002, S.155
  • [27] Latour, 2002, S.160
  • [28] Latour, 2002, S.171
  • [29] Latour, 2002, S.172
  • [30] Das Tabu ist natürlich im konventionell-dualistischem Denken mythischen Ursprungs. Doch ein Tabu ist eigentlich nur eine besonders strenge Regel darüber, welche Grenzen innerhalb eines Weltbezugs gezogen werden dürfen bzw. müssen und welche nicht. Solche Regeln gibt es selbstverständlich auch in der Naturwissenschaft bzw. der Aufklärung. Die Wächter solcher Tabus sind heute so mächtig, wie ehedem, egal ob sie die „political correctness“ (Gesellschaft) oder „erlaubte Forschungsmethoden“ (Wissenschaft) bewachen.
  • [31] Angulo, 1990, S.71f
  • [32] Latour, 2002, S.172
  • [33] Latour, 2002, S.181
  • [34] Latour, 2002, S.199ff
  • [35] Latour, 2002, S.376
  • [36] Latour, 2002, S.183
  • [37] Latour, 2002, S.209
  • [38] Latour, 2002, S.207 vgl. Abbildung 5.2
  • [39] Latour, 2002, S.189
  • [40] Der Begriff der Institution ist hier viel weiter gefasst als der herkömmliche, mit dem vor allem gesellschaftliche Institutionen bezeichnet werden, wie Behörden, Ämter, die Ehe, der Staat usw. Die Problematik von Institutionen ist allerdings eine generelle. In dem bekannten Streitgespräch zwischen Gehlen und Adorno, hatte Gehlen für starke Institutionen argumentiert, ohne die die Menschen überfordert seien, während Adorno verlangte, die Menschen müssen ohne die Hilfe von Institutionen und somit mündig und autonom ihr Leben bestreiten. Ich denke, dass sowohl Adorno als auch Gehlen absolute Standpunkte innerhalb eines ständig statt findenden Aushandlungsprozesses vertreten, in dem Stabilität und Ausmaß der Zuständigkeit von Institutionen jeweils neu konkretisiert werden. Erst dieser Aushandlungsprozess verhindert Totalität, nicht der absolute Verzicht auf Institutionen generell, der selbst eine totale Position kennzeichnet. Vgl. Adornos Radio-Streitgespräch mit Arnold Gehlen, Grenz, 1974.
  • [41] Horkheimer und Adorno, 1988, S.47