Adorno in Oxford

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4. Das Institut für Sozialforschung. Annäherungen an die geistige Heimat.

Adornos Zeit in Oxford war nicht nur geprägt von einer prozesshaften Emigration, die ihn schließlich nach Amerika brachte, sondern – und das war der eigentliche Grund für den Umzug in die Vereinigten Staaten – von einer ebenso prozesshaften Annäherung an das von Horkheimer geleitete Institut für Sozialforschung. Adorno hatte schon vor seiner Auswanderung in Frankfurt mit dem Institut zu tun gehabt, hauptsächlich in der Form von Beiträgen und Aufsätzen, die er für die Zeitschrift für Sozialforschung schrieb. Während Adorno jedoch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland blieb, machte Horkheimer unverzüglich Anstallten mitsamt den Vermögenswerten und, auf Umwegen, der Bibliothek des Instituts, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Diese rasche Emigration nicht nur Horkheimers, sondern auch der meisten der im Umkreis des Instituts befindlichen Intellektuellen führte dazu, dass sich Adorno und Horkheimer aus den Augen verloren und sich in der Folge mehrmals verpassten oder es durch unklare Absprachen nicht zu Treffen oder ausführlichen Aussprachen kam. Am 25.10.1934 schrieb Horkheimer daher einen Brief an Adorno, um seinem „Groll Luft zu machen“. „Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass wir uns seit März 1933 nicht gesprochen haben. Daran mögen eine Reihe von Mißverständnissen Schuld sein, aber es ist jedenfalls ein unglaublicher Zustand. (…) Es besteht kein Zweifel darüber, daß der Mangel an Beziehungen zwischen Ihnen und dem Institut für dieses einen Schaden bedeutet, denn Sie gehören notwendig mit zu uns. Andererseits wird sich aber auch in ihrer Entwicklung diese Trennung auswirken. Über beides bin ich recht traurig.“ (Horkheimer, 1995a). Im folgenden Briefwechsel, in dem sich beide bemühen, die Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, kommt Adorno auf ein für ihn sehr zentrales Thema zu sprechen: „(…) sozusagen der letzte Punkt, der zwischen uns ganz klar gestellt werden muß. Es betrifft ganz einfach Vertrauen und Aufrichtigkeit des Instituts im Verhältnis zu mir. (…) Ganz untragbar scheint es mir, daß, bei einer Beziehung, die schließlich wirkliche Solidarität von beiden Seiten voraussetzt, die eine Seite über höchst wichtige Verhaltensweisen der anderen einfach im unklaren bleibt. Es handelt sich dabei übrigens um ein Moment, das schon vor die Nazizeit zurückdatiert; ich habe noch in Frankfurt bemerkt, daß ich, trotz unseres täglichen Miteinanderseins, in den spezifischen Institutsangelegenheiten häufig vor ein fait accompli gestellt worden bin, ohne wirklich real beteiligt zu sein; und das war einer der Hauptgründe, warum ich so auf die offizielle Eingliederung drang.“ (Adorno an Horkheimer, 24.11.34, Horkheimer, 1995a). Adorno vermutete eine „Geheimpolitik des Instituts“ ihm gegenüber und war gekränkt, dass er aus seiner Sicht der Einzige im Umkreis des Instituts gewesen war, der keinerlei Anweisungen oder Hilfsangebote erhalten habe, um aus Deutschland herauszukommen und dabei eine Position im Zusammenhang des Instituts zu erhalten. So schrieb er im gleichen Brief, ob er nicht zum Beispiel die Leitung der Londoner Zweigstelle des Instituts hätte übernehmen können. Es zeigt sich eindeutig, dass Adorno nicht nur enttäuscht über die jüngeren Ereignisse war, sondern sich eine Position im Zusammenhang mit dem Institut wünschte, die ihn nicht nur in die theoretische Arbeit einbände, sondern ihn auch organisatorisch und institutspolitisch integrierte. Auf der anderen Seite insistierte Horkheimer, dass sich Adorno falsche Vorstellungen vom Institut mache. So sei die Londoner Zweigstelle nichts weiter als ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, der bei Fragebogenverteilungen und kleineren Arbeiten helfe. Horkheimer schrieb am 2.1.1935: „Manches worüber Sie sich beklagen, scheint, ähnlich wie Ihre Vorstellung vom Londoner Büro, auf ein etwas zu großartiges Bild des Institutsbetriebs zurückzugehen. Wir sind eine Gruppe von Leuten, die sich nach ihren sehr schwachen Kräften bemühen, die Theorie vorwärts zu bringen. Der organisatorische Apparat, zu dem auch die Repräsentation gehört, spielt nur eine geringe Rolle. Sie selbst haben der sogenannten offiziellen Eingliederung immer zu viel Wert beigemessen.“ (Horkheimer, 1995a).

Diese Briefwechsel entstanden in der Phase Adornos Oxforder Jahre, in der ihm die Implikationen der Emigration und die Schwierigkeiten der Etablierung in Oxford ebenso wie die Ausweglosigkeit der politischen Situation am eindrücklichsten klargeworden sein mussten. Es scheint nicht zufällig zu sein, dass seine Hervorhebung der offiziellen Eingliederung in das Institut in der gleichen Zeit geschieht, in der er in Oxford versuchte mit einer Direktheit und Zielgerichtetheit Kontakte zu schließen, die in England als unangemessen und aufdringlich erscheinen musste. So hatte Adorno im Herbst 1934 versucht über Claughton, einem ihm bekannten Intellektuellen in Kontakt mit Beveridge, dem Gründer des AAC und Leiter der London School of Economics zu kommen, indem er in unbeholfenem Englisch einen langen Vorstellungs- und Bittbrief schrieb, den Beveridge knapp mit einem „charming“ quittierte; leider könne er nicht helfen. (MS. SPSL. 322/2; No. 99-101). Anscheinend hatte Adorno mit diesen Versuchen schon so viel, allerdings negative, Aufmerksamkeit erregt, dass Adams vom AAC ihm nach einem Brief von Prof. Joachim schrieb, dass es vorerst für ihn besser sei, sich nicht weiter um akademische Stellungen, öffentliche Vorlesungen oder akademische Kontakte zu bemühen, da damit ein Risiko einhergehe, Opposition gegen ihn zu erzeugen (MS. SPSL. 322/2; No. 121). Adornos Unbeholfenheit dieser Zeit mit den englischen Umgangsformen wird sehr anschaulich von Wilcock im Zusammenhang mit dem Oxford University Musical Club beschrieben. Dort hatte Adorno in das „suggestion book“ des Clubs über eine Seite mit Vorschlägen für Notenanschaffungen gefüllt. Nicht nur zeigte eine solche Liste jegliche Abwesenheit von Zurückhaltung (gerade für ein neues Mitglied). Er missachtete gleichzeitig die Anweisung, auf nur einer Seite des Buches zu schreiben und hatte dies in seiner unleserlichen altdeutschen Schrift getan (Wilcock, 1996a, S.12). Oxford, das musste Adorno sicherlich in dieser Zeit lernen, funktionierte nach sozialen Mechanismen, die er erst erlernen musste und die ihm nicht erlaubten einfach an das anzuknüpfen, was er bis dahin in Deutschland und Österreich gemacht hatte. Oxfords größte Stärke war in dieser Zeit nach Harrison: “a sense of place, a preoccupation with tradition, an attachment to personal connections.” (Harrison, 1994, S.81). Diese drei Punkte waren sicherlich für Adorno Herausforderungen. „Sense of place“ bedeutete in Oxford eine tiefe Verbundenheit mit dem Ort und vor allem mit den Colleges, die nicht nur die Räumlichkeiten für Lehrveranstaltungen beherbergten, sondern Lebensmittelpunkt des akademischen Alltags waren. Hier wurde gegessen und geschlafen. Selbst Tutoren und Lecturers lebten hier während der Trimesterzeit. In seltenen Fällen konnten die verheirateten älteren Mitglieder außerhalb übernachten. Adorno lebte jedoch nicht im College, sondern in seiner Privatunterkunft in 47 Banbury Road. Dies wurde einem ausländischen Akademiker sicherlich verziehen, aber es machte Adorno zu jemandem, der nicht vollständig ins Merton College integriert war. Dies erschwerte ihm sicherlich den Zugang zu den Clubs und Societies, die auf dem Prinzip der persönlichen Einladung beruhten. Hier spielten auch die Traditionen und die persönlichen Beziehungen eine große Rolle, in beide fand man vor allem dadurch Eingang, dass man sich am Leben der Colleges mit seinen Feierlichkeiten, Zeremonien und Sportveranstaltungen beteiligte. Auch wenn Adorno recht schnell Zugang in den Oxford University Musical Club und die Philosophical Society, zu der er eigentlich nicht mitgliedsberechtigt war, fand (Kramer and Wilcock, 1999, S.137), so kann man sich denken, dass Adorno sich generell weniger an diesen Strukturen beteiligte. Seine Herangehensweise, wie eher in Deutschland üblich, war es mit Leuten persönlich Kontakt aufzunehmen und sie von seinen Qualitäten zu überzeugen (wie er es mit Beveridge versucht hatte). Vor diesem Hintergrund wäre eine offizielle Eingliederung ins Institut für Sozialforschung nicht nur seinen eigenen Ambitionen und Vorstellungen nähergekommen, sondern hätte ihm auch in Oxford neben dem Status als „advanced student“ eine zusätzliche Position verschafft.

Horkheimer zeigte Adorno gegenüber Entgegenkommen, auch wenn er die offizielle Eingliederung vorerst abtat. Das lag aus Horkheimers Sicht daran, dass er sich wünschte, Adorno müsse erst wieder in engeren Kontakt und Austausch mit dem Institut kommen, um sich von diesem ein klareres Bild machen zu können. Wiederholt bot er Adorno daher an, nach Amerika zu kommen um dort nicht nur ausführliche Gespräche zu führen, sondern den Institutsbetrieb vor Ort begutachten zu können und sich ein eigenes Bild von den Möglichkeiten der Einbindung zu machen. Diese Besuchsfahrt kam lange aus verschiedenen Gründen nicht zu Stande. Dafür fand Mitte Januar 1936 ein Treffen der beiden in Amsterdam statt, bei dem sicherlich einiges zwischen den beiden besprochen und klargestellt werden konnte, denn danach begannen wieder rege inhaltliche Korrespondenzen über Institutsangelegenheiten und Zeitschriftenartikel. Außerdem hatte Horkheimer Adorno eine Eingliederung ins Institut bestätigt, sobald dieser seinen englischen Abschluss gemacht habe. (Telegramm von Horkheimer an Adorno, 29.2.1936, Adorno Forschungsgruppe der Universität Oldenburg, 2001). Außerdem stand Adorno nun immer mehr im Zentrum der Institutsangelegenheiten in Europa. Am 25.6.1936 erwägte Adorno in einem Brief an Horkheimer die Leitung der Pariser Zweigstelle (Horkheimer, 1995a) und am 12.10.1936 bedankte sich Adorno für die Woche in Paris und die „erste Möglichkeit eines ernsthaften Austauschs“, die Horkheimer ihm ermöglicht habe. In Paris hatte er Institutsangelegenheiten geregelt und sich mit verschiedenen Intellektuellen, unter anderem Benjamin, getroffen (Horkheimer, 1995a).  Diese Fahrt musste für Adorno nicht nur wegen des Austauschs bedeutend gewesen sein. Vielmehr schien er nun das Gefühl zu haben, wirklich in die Institutsgeschäfte eingeweiht zu sein und mitsprechen zu können. Die folgenden Briefe an Horkheimer waren gefüllt mit Vorschlägen über Institutsangelegenheiten und Einschätzungen anderer Mitarbeiter. Auch sein Oxforder Husserlprojekt wand sich mehr den Institutsbedürfnissen zu. Adorno schrieb dazu am 30.10.1936 an Horkheimer, dass sich die englische Dissertation als Nebenprodukt seiner Gedanken zum aporetischen Begriff bei Husserl ergeben müsse (Horkheimer, 1995a).

Im Februar 1937 führte Horkheimer mit Adornos Vater ein Gespräch über Adornos Zukunftsperspektiven, dessen Resultate Horkheimer am 22.2.1937 Adorno mitteilte. Darin werden drei Möglichkeiten besprochen, die Adorno näher an das Institut binden würden, entweder in England, in den Vereinigten Staaten oder in Frankreich. Horkheimer schrieb dazu: „Das Institut betrachtet Sie von dem Augenblick an als festen Mitarbeiter, in dem Sie selbst Ihre Stellung zu beziehen wünschen.“. Bei der Besprechung der drei Möglichkeiten, zeigte sich die englische Lösung am schwächsten. Dort hätte das Institut nur eine halbe Stelle einrichten können. Frankreich würde bedeuten, dort unter Umständen eine französische Zeitschrift herauszugeben. Amerika sei weit vom Schuss und es gäbe dort wirkliche akademische Aussichten, gerade mit dem englischen D.phil.. Auch Adorno schien zu der amerikanischen Lösung zu tendieren, denn in seiner Antwort vom 2.3.1937 schrieb er, dass er die Möglichkeit, in Frankreich dem Institut eine wirklich wichtige Position zu erobern, skeptisch beurteile. Zudem wünschte sich Adorno mit Horkheimer an einem Platz zu arbeiten (Horkheimer, 1995a). So deuten also schon zu dieser Zeit die Umstände auf einen Umzug nach Amerika. Das wirklich entscheidende Ereignis, das all diese Pläne konsolidierte, war jedoch Adornos zweiwöchige Reise im Juni und Juli 1937 nach Amerika , um dort mit Horkheimer über seine Zukunftspläne zu sprechen. Diese Reise war in mehrerer Hinsicht ein Erfolg. Nicht nur wurde dort noch einmal die Eingliederung Adornos in das Institut bekräftigt und die Pläne für Amerika bestärkt. Adorno schrieb noch auf der Überfahrt zurück an Horkheimer: „Kaum je und sicher nicht seit Ausbruch des Totalen bin ich so glücklich gewesen wie in diesen Wochen. Und wenn ich nur eines noch Ihnen nennen darf, wofür ich aufs tiefste dankbar bin, dann ist es dies: daß ein Schriftsteller meiner Art, der die tiefste Einsamkeit und die prinzipielle Unmöglichkeit, das was er denkt und sagt, je einzufügen sich zum a priori gemacht hat, nun plötzlich sich voll und real in eine bestehende und gute Kollektivität eingefügt sieht, ohne daß er sich darum „einfügen“ müßte.“ (Adorno an Horkheimer, 6.7.1937, Horkheimer, 1995b). Damit ist – zumindest ideell – Adorno in das Institut vollständig eingegliedert. Nach den Bemühungen in Oxford um Ansehen und Stellung und dem Auseinanderleben mit dem Institut hatte Adorno wieder eine seinen eigenen Vorstellungen entsprechende Perspektive. Man könnte sogar sagen, Adorno kam aus einer geistigen Emigration zurück in seine geistige Heimat. Die materielle und organisatorische Eingliederung ließ noch ein wenig auf sich warten und doch waren die folgenden Schritte die logische Konsequenz aus dem Amerikabesuch. Am 8.9.1937 heiratete Adorno Gretel in Oxford mit Horkheimer als Trauzeugen. Horkheimer und Adorno begannen sich mit Vornamen anzusprechen. Am 2.10.1937 schrieb Adorno an Bloch, er sei nun „wohlbestallter member, oder fellow des International Institute of Social Research geworden“ und wolle den Kontakt zum Institut noch ausbauen (Adorno Forschungsgruppe der Universität Oldenburg, 2001). Am 20.11.1937 informierte Horkheimer Adorno per Telegramm darüber, dass er am von Lazarsfeld geleiteten Radio Research Project in Amerika mitarbeiten könne. Adorno sagte zu, woraufhin alles Weitere für die Überfahrt von Adorno und Gretel geregelt wurde. In Amerika angekommen, arbeitete Adorno die Hälfte seiner Zeit für das Radio Research Project, die andere Hälfte für das Institut, jedoch mit dem Status eines vollen Institutsmitglieds. Aus dem bisher Erschlossenen könnte man Adornos Zeit in England als eine Zeit betrachten, in der, gleich einer Schere, sich zwei Bewegungen kreuzen, nämlich die einer prozesshaften physischen Emigration aus Deutschland und dem schrittweisen Näherkommen einer geistigen Heimat in Form der Mitarbeit am Institut für Sozialforschung. Es bleibt allerdings noch Adornos Husserlprojekt in Oxford einzubeziehen, das das klare Bild dieser Scherenbewegung fragmentiert und ihm gleichsam dialektisch entgegensteht. Denn einerseits zeigt diese Arbeit Adornos positive (im Sinne von fruchtvolle) Auseinandersetzung mit seinen Oxforder Erfahrungen und damit auch den Erfolg eines persönlich gefundenen Zugangs in den Oxforder Universitätsbetrieb. Auf der anderen Seite ist es aber gerade diese Arbeit, die bei Horkheimer auf tiefen Widerstand trifft und damit die scheinbare Harmonie der „geistigen Heimat“ trübt.