Adorno in Oxford

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6. Physische und geistige Heimat. Emigration, Heimkehr, Ambivalenzen.

„Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will.“ (Adorno, 1969, No. 13). Adornos Oxforder Erfahrungen mögen ihn zu diesem Aphorismus aus den Minima Moralia geführt haben. Denn wie ich versucht habe zu zeigen, war es gerade diese Periode in England, die geprägt war vom Begreifen und Erfahren der Diskontinuität durch die Emigration. Versuchte Adorno die Emigration anfangs noch aussehen zu lassen wie eine Weiterführung der akademischen Karriere im Ausland für den Zeitraum des Ausharrens des Nationalsozialismus, wurde ihm schon bald bewusst, dass nicht nur die akademischen Aussichten in England einer Neu- und Umorientierung bedurften, dass er lernen musste mit den universitären und sozialen Gebräuchen umzugehen, sondern auch, dass der Nationalsozialismus kein schnelles Ende nehmen würde. Folge davon war nicht nur das Bewußtwerden der administrativen Schwierigkeiten und Hindernisse für einen Emigranten, sondern gleichfalls die Notwendigkeit, nach Alternativen für Familie und Karriere zu suchen, in die Deutschland als schwarzer Fleck auf der Karte der persönlichen Zukunftsentwürfe nicht einbezogen werden konnte – obgleich sicherlich die Hoffnung auf ein vom Nationalsozialismus befreites Deutschland niemals aufgegeben wurde. Diese Ambivalenzen der Emigration und die Erkenntnis der eigenen Beschädigung, führten bei Adorno jedoch auch dazu, sich akademisch mit dem neuen Umfeld intensiv auseinander zu setzen. Trotz der von ihm immer wieder hervorgehobenen Isolation war er in Oxford, nach den anfänglichen Akklimatisierungsproblemen, auf vielfältigste Weise aktiv und mit Projekten beschäftigt gewesen (Neben seiner Husserldissertation, arbeitete er unter anderem über Jazz und Wagner). Beschäftigt zu sein und sich mit seiner Umgebung auseinander zu setzen, heißt aber nicht gleichzeitig auch „zu Hause“ zu sein. Wenn Kramer und Wilcock vermuten, dass der britische Einfluss auf Adorno umfangreicher und positiver war, als Adorno selber erkennen oder sich eingestehen mochte (S.161), bzw. dass Adorno in Oxford Fuss gefasst habe und Vergnügen an seiner Existenz dort empfand (Kramer und Wilcock, 1999, S.152), dann hat dies eine Konnotation von „eingelebt“ und „zufrieden“ sein. Ich glaube aber, dass eine solche Interpretation zu weit ginge und, wie ich versucht habe zu zeigen, Adornos Selbstsicherheit gegen Ende seiner Oxforder Zeit vor allem auf seine Perspektive mit dem Institut für Sozialforschung zurück zu führen ist. Diese Perspektive war die Quelle seiner wirklichen Interessen und der Fokus seiner Arbeit. Sicherlich war Oxfords Einfluss auf Adorno trotz dieses Einwands umfangreich, aber, so darf man annehmen, eher bedingt durch seine bewusste Verarbeitung und kritische Reflexion der sich ihm in Oxford präsentierenden akademischen und philosophischen Umwelt, die er als verschieden von seinem eigenen theoretischen Hintergrund betrachtete: „Hier versteht sie (meine Arbeit – JR) kein Mensch, aber das ist kein Fehler.“ (Adorno an Horkheimer 24.11.1934, Horkheimer, 1995a). Und eine solche Auseinandersetzung lag ganz im Einklang mit seinen eigenen theoretischen Ansprüchen, da sich aus dieser Auseinandersetzung mit Sicherheit ein Lernprozess entwickelte, dessen Ergebnisse in seine Arbeiten dieser Zeit geflossen sind, und der ihn davor bewahrte „hinter dicht geschlossenen Türen der Selbstachtung grausam belehrt zu werden“. Gerade das mag ein Grund dafür sein, dass die Husserlarbeit ihm so am Herzen lag, denn sie war das Ergebnis einer persönlichen Auseinandersetzung mit dem intellektuellen Aspekt seiner Emigration. In ihr erarbeitete Adorno gleichsam sich selbst seine theoretische Position gegenüber den philosophischen Strömungen in Oxford, und blieb damit doch aus seiner Sicht dem theoretischen Programm des Instituts treu. Sicherlich ist die Arbeit nicht von der Emigration bedingt oder ein Ausdruck der Emigration, aber sie ist eine Auseinandersetzung mit einem theoretischen Problem, dass während Adornos Emigration Bedeutung für ihn in seinem Emigrationskontext hatte und daher einen Aspekt seiner Emigration beleuchtet. Das gerade diese Arbeit der scharfen Kritik Horkheimers ausgeliefert war, musste dementsprechend schmerzlich sein, wurde damit doch auch Adornos theoretische Auseinandersetzung während seiner Oxforder Zeit entwertet. Adornos Übersiedlung nach Amerika war sicherlich eine Erleichterung in mehrerer Hinsicht. So ging er nicht allein, sondern mit Gretel, bezog eine Stellung beim Institut, die er sich lange gewünscht hatte und kam in die Nähe von Horkheimer, mit dem er nun auf engerem Raum theoretisch zusammenarbeiten konnte. Nicht zuletzt entfloh er Europa kurz vor dem Krieg und ersparte sich damit viele physische und bürokratische Erschwernisse. Getrübt wurde dieser Schritt jedoch weltpolitisch durch den Beginn des Krieges, die Sorge um die Eltern, die weiterhin in Deutschland waren und durch die Schwierigkeiten mit der Veröffentlichung und Anerkennung seines Husserlprojekts durch das Institut. An Adorno Oxforder Zeit wird deutlich, dass Emigration kein homogenes Phänomen war und ist, sondern immer auf sehr individuelle Weise ge- und erlebt wurde und wird. Es lässt sich nachvollziehen, wie sich politische, soziale und persönliche Hintergründe zu einem Emigrationsumfeld verweben, vor dessen Hintergrund sich Leben und Arbeiten abspielt. Das dabei die Begriffe Heimat und Exil nicht trennscharf bleiben, sondern sich verwischen und in verschiedenen Bereichen verschiedene Bedeutung tragen können wird offensichtlich. So gelang es Adorno trotz des Verlusts der physischen Heimat intellektuell Zugang zu einer theoretischen Heimat zu finden, in die er sich „eingliedern konnte, ohne sich eingliedern zu müssen“ (Adorno an Horkheimer, 6.7.1937, Horkheimer, 1995b). Dass dieses Bild aber auch weiterhin ambivalent blieb und geradezu dialektisch relativiert war, zeigen exemplarisch die Zusammenhänge um die Husserlarbeit.

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