Netzwerke und Gestaltenwandler

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Tröstung und Offenheit

Haben wir wirklich nur diese zwei Möglichkeiten? Müssen wir tatsächlich auf unserer Subjektposition nur noch stärker beharren, um uns gegen die Angriffe postmoderner und poststrukturalistischer Dekonstruktionen zu wappnen? Brauchen wir nur fest genug auf dem Boden zu stehen und den Sturm abzuwarten, um dann wieder zum dualistischen Alltag übergehen zu können? Können wir die Durchlässigkeit unserer Identität damit retten, indem wir ihre angenommenen Grenzen befestigen und verteidigen? Oder müssen wir kapitulieren, unsere Ohnmacht eingestehen gegenüber den komplexen Einflüssen einer Welt, in der die Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen Mensch und Technik nicht mehr klar zu definieren sind und unsere Autonomie als Selbst in einem erlebten natürlichen Leib in Frage steht?

Stanislav Lem hat es sich in seiner Kurzgeschichte einfach gemacht. Als der Bruder von Mr. Johns in den Zeugenstand gerufen werden soll, stellt sich heraus, dass Johns Bruder ein Vollersatz des ursprünglichen Bruders ist, der bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen war, hergestellt natürlich von der Cybernetics Company. Der Richter vertagt daraufhin in Anbetracht der Notwendigkeit einer Überprüfung zusätzlicher Umstände die Verhandlung. Die Geschichte endet.

Die Möglichkeit der Vertagung haben wir jedoch nicht. Die Debatten über das menschliche Genom, die Stammzellforschung, die Lizenzierung pflanzlicher, tierischer und menschlicher Gene sowie die Debatte über genetische Therapien, aber auch weniger aufsehenerregende Entwicklungen und Diskussionen, wie die Einsätze von chemischen Zusatzstoffen in Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie, wie der Zusatz von Chlor und Aspirin in die Trinkwasserversorgung, um nur weniges zu nennen, sind Anzeichen dafür, dass es mit dem Vertagen nicht mehr getan ist. Dieser Band mit seiner Thematik gibt Zeugnis davon, dass wir auch nicht weiter vertagen wollen, denn die Frage nach Körper und Identität verläuft auf personaler Ebene analog zu den Fragen nach unserer Welt und wie wir in ihr leben wollen. Trotzdem können wir nicht so weiterdiskutieren wie bisher, stoßen unsere Begriffe und Konzeptionen an fundamentale Probleme, die uns immer wieder in zirkuläre Argumentationen verwickeln. Manfred Weinberg beschreibt in seinem Artikel Körper von Gewicht?, wie die Rezeption Judith Butlers Gender Trouble (Butler 1991) sich genau an diesem Problem entzündete: „Von ihm (dem Modell des Natur-Kultur-Gegensatzes – JR) aus wird verständlich, warum Butlers These der Konstruiertheit gleich mit Willkür, mit einer technologischen Erzeugung und Implementierung menschlicher Körper assoziiert wurde: Wenn Körper ganz auf die Seite der Natur geschlagen werden, dann muss jede Rede von Konstruktion eine Rede vom anderen Pol der Dichotomie aus sein und entsprechend dem natürlichen Körper sein Gewicht absprechen“ (Weinberg 1999, S. 40).

Weinberg zeigt damit, wie stark selbst jüngste Diskurse durch unser dichotomes Denken geprägt sind und uns immer wieder dort ausbremsen, wo es am interessantesten wird. Wenn wir aber nach Möglichkeiten suchen wollen Materialität und Konstruiertheit, Leib und Identität, Natur und Kultur zusammen anders zu denken, müssen wir andere Wege gehen. Wir haben schon so oft gemerkt, dass es nicht reicht, sich bloß für eine Seite der Dichotomie stark zu machen, um Paradoxien aufzulösen und wir sehen mehr und mehr, wie sich trotz unser konstruktiven Bemühungen Grenzen zu definieren und die Welt klar zu kategorisieren, unsere Kategorien ineinander auflösen und vermengen. Wir bringen uns dadurch in eine Position, in der unser Theoretisieren defensiv und re-aktionär wird. Mit jeder Kategorie, die in Zweifel gezogen wird, konstruieren wir reflexartig eine Vielzahl weiterer und tragen somit selbst zur Fragmentierung unserer Welt bei.

Ich möchte daher zum Schluss die verschiedenen, in diesem Artikel ausgeworfenen Leinen wieder einholen und mit Hilfe Donna Haraways zusammen bringen, da ich vermute, mit ihren Ansätzen einer situierten Wissenschaftspraxis und einer dazu analogen Konzeption von Körper und Identität viele angesprochene Probleme wenn nicht lösen, so doch zumindest vorläufig versöhnen zu können. Latour würde davon sprechen, die beiden Kammern der modernen Verfassung (Natur und Gesellschaft) in ein gemeinsames Kollektiv zu versammeln, um „die Aufgaben definieren zu können, wie die gemeinsame Welt zusammen gesetzt werden kann“ (Latour 2001, S. 82ff). Auf unser Thema übertragen müssten wir fragen, was Identität unter den Vorzeichen einer komplexen körperlichen und leiblichen Welt sei, in der die Grenzen zwischen natürlich und technisch/gesellschaftlich nicht mehr eindeutig bestimmbar sind, und nur unter großem konstruktivem Aufwand und ausschließenden Subjektivierungsprozessen jemals bestimmbar waren.

Dazu möchte ich Berthe-Corti wieder aufgreifen, die die Schwierigkeit beschrieben hat, die wir haben, wenn wir einen neutralen oder objektiven Standpunkt ausmachen wollen, von dem aus wir bemessen und beurteilen können. Genau diese Schwierigkeit hat Donna Haraway zu ihrem Konzept des situierten Wissens geführt. Durch ihre Arbeit als Primatologin gleichermaßen wie über ihre wissenschaftstheoretischen und -soziologischen Untersuchungen, hat sie sich die Frage nach dem Standpunkt der Wissenschaft gestellt, von dem aus objektive Aussagen über die Wirklichkeit getroffen werden können bzw. die Welt gemessen werden kann. So hat sie in Untersuchungen über die Forschung am Immunsystem oder über die unterschiedlichen ForscherInnenperspektiven innerhalb der Primatologie herausgearbeitet, welchen Einfluss kulturelle und technische Prämissen auf Forschungsergebnisse haben. Haraway zieht aus diesen Untersuchungen den Schluss, dass es einen absoluten Standpunkt wissenschaftlicher Forschung nicht geben könne, sondern dass sich Wissen vielmehr auf der Basis historisch gewachsener Praktiken in Interaktion zwischen ForscherIn, Erforschtem und dem jeweiligen komplexen Kontext, in den beide eingebunden sind, verkörpert. Dabei entsteht situiertes Wissen, dass sie als einzig verlässliches identifiziert, also Wissen, dass jeweils nur innerhalb seines Kontextes und seiner Perspektive objektiv sein könne. Haraway schreibt: „Ich argumentiere für Politiken und Epistemologien der Lokalisierung, Positionierung und Situierung, bei denen Partialität und nicht Universalität die Bedingung dafür ist, rationale Ansprüche auf Wissen vernehmbar anzumelden.“ (Haraway 1995a, S.89). Wissen wird damit zu einem „verdichteten Knoten in einem antagonistischen Machtfeld“ (S. 75). Das heißt nicht, dass Haraway die soziale Konstruktion wissenschaftlicher Fakten in den Vordergrund schiebt. Sicherlich spielen soziale und historische Faktoren eine große Rolle, aber sie legt besonderen Wert darauf zu zeigen, dass alle Elemente, die herkömmlicherweise als Objekte der Wissenschaft gelten oder als bloße Apparate, Umstände und Laborsituationen das „neutrale“ Umfeld eines Forschungszusammenhangs bestimmen, eben nicht neutral sind, sondern eine eigene Aktivität besitzen und somit als Akteure bezeichnet werden können, die Gernerativität besitzen: „Situiertes Wissen erfordert, dass das Wissensobjekt als Akteur und Agent vorgestellt wird und nicht als Leinwand oder Grundlage oder Ressource und schließlich niemals als Knecht eines Herrn, der durch seine einzigartige Handlungsfähigkeit und Urheberschaft von „objektivem“ Wissen die Dialektik abschließt“ (S. 93). Aus dem netzwerkartigen Zusammenspiel formen sich Knotenpunkte von Bedeutung und Körpern, die sich aus materiellen und kulturellen Schichten zusammen setzen. Desswegen kann nach Haraway Kontingenz und Materialität gemeinsam gedacht werden.

Analog zu den Wissensobjekten bringt auch unser Körper eine eigene Aktivität mit. Haraway schreibt über Körper als Wissensobjekte: „Ihre Grenzen (nicht die Körper und Objekte als solche – JR) materialisieren sich in sozialer Interaktion. […] Aber Grenzen verschieben sich von selbst, Grenzen sind äußerst durchtrieben. Was Grenzen provisorisch beinhalten, bleibt generativ und fruchtbar in bezug auf Bedeutungen und Körper. Grenzen ziehen (sichten) ist eine riskante Praktik“ (S. 96). Unser Körper ist selbst durch verschiedenste Aushandlungsprozesse geprägt und generiert gleichzeitig einen Bereich des Bedeutungsknotenpunktes, den wir als Identität bezeichnen können und an dessen Konstitution auch unser leibliches Empfinden und unsere gesellschaftliche, technische und historische Situierung beteiligt sind. Eine solche Identität, wenn man sie überhaupt noch so nennen möchte, müsste eine ähnliche Umdeutung erfahren, wie bei Haraway der Begriff der Objektivität. Haraway spricht deshalb auch von „brüchiger Identität“ (S. 40). Identität wäre nicht mehr als starke Subjektposition denkbar, etwa die eines völlig autonomen Selbst. Sie ist aber auch nicht einer „totalen Entkörperung, Entwurzelung oder Entortung“ ausgesetzt. Vielmehr bildet sie einen Knoten innerhalb bedeutungsvoller Praktiken, historischer Situierung, leiblicher Erfahrung und kultureller Aushandlungsprozesse, der gerade durch seine Kontextualität Handlungsoptionen ermöglicht, anstatt sie zu verspielen. Allerdings beinhaltet ein solches Konzept von Individualität auch anzuerkennen, dass diese nie vollständig bestimmbar und abzugrenzen sein wird von den Substanzen, die wir zu uns nehmen, den technischen Hilfsmitteln, denen wir uns bedienen, der medizinischen Implantate und Prothesen, die unsere Körperfunktionen unterstützen, oder dem kulturellen und sozialen Umfeld, in dem wir uns bewegen, ja selbst nicht der (virtuellen) Realität, der wir uns aussetzen, denn: „One must understand, that the reality effect of ‘virtual reality’ is no less and no more ‘real’ than that made available – and enforced – by the material, literary, and social conventions of the first scientific revolutions and renaissances that make up the stories about European-derived apparatuses for the production of matters of fact and states of self-evidence.“ (Haraway, 1997, S. 270).

Denkt man in Kategorien wie Subjekt und Objekt ist es Subjekten nicht nur möglich sich Objekte anzueignen und sicheres Wissen über sie zu erlangen, sie können dies auch mithilfe der Reflektion sich selbst gegenüber. Die Selbstreflektion ist ein wichtiges Werkzeug im Umgang mit starken Subjektpositionen. Für Haraway bleibt dieses Konzept jedoch innerhalb der Logik der Repräsentation. Sie schlägt statt dessen den Begriff der Diffraktion, der Beugung des Lichts vor (Haraway 1995b, S.140). Er ist eine Metapher dafür, wie sich Körper und Bedeutungen unaufhörlich innerhalb ihres Netzes verschieben und somit immer neue vielfältige Möglichkeiten eröffnen, ohne jedoch vollständig aus ihren materiellen und gesellschaftlichen Kontexten herauszufallen. Er kann helfen Identität zu beschreiben, die gleichsam neben sich steht, die um ihre Kontinuitäten und Kontigenzen weiß, ohne diese jedoch eindeutig festmachen zu können und sich gleichzeitig einer kontinuierlichen Veränderung bewusst ist. Gleichzeitig ist die Diffraktion eine Metapher dafür, einen Unterschied in der Welt machen zu können (Haraway 1997, S. 16). Durch Diffraktion kann Differenz erst entstehen, merken wir, wo wir Konventionen umgehen, Praktiken variieren, die essentialistische Matrix (vgl. Butler zur heterosexuellen Matrix 1991, S. 21) verlassen können. Für diejenigen, die starke Subjektpositionen gewöhnt sind, mag diese Aussicht auf eine brüchige, verschwommene, sich stets in Bewegung befindliche und in Netzwerken eingebundene Identität ebenso erschreckend wirken, wie eine völlige Entortung und Entkörperung durch poststrukturalistische Theorien. Und in der Tat müssten wir uns einigem Neuen gegenüber öffnen: wir müssten damit rechnen, dass viele unserer Gewissheiten zunehmend in Frage gestellt werden, mühsam aufgebaute Grenzen leichter eingerissen und verschoben werden können und wir keinen letztendlich festen Punkt mehr finden, an den wir uns, unter Verweis auf das autonome Selbst, die Objektivität der Wissenschaft oder sonstige absolute Positionen, zurückziehen könnten. Wir müssten damit rechnen, das Hybriden, bisher unerlaubte Vermischungen von Mensch und Technik, Gesellschaft und Natur nicht nur zunehmen, sondern auch offen für ihre Rechte eintreten. All das wird begleitet sein von Kompromissen, Einschränkungen und Machtkämpfen. Andererseits liegt hierin gerade die Hoffnung auf mehr Demokratie, mehr Handlungsspielräume, weniger Absolutismen und Fundamentalismen, deren Positionen zunehmend schwieriger zu halten sein würden und zwar nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber sich selbst. Wie Gestaltenwandler wären wir in der Lage je nach Situation verschiedene Positionen einzunehmen. Dabei könnten wir uns trotzdem unserer materiellen, leiblichen und körperlich, gesellschaftlichen Kontextgebundenheit sicher sein, so dass Beliebigkeit und Schizophrenie keine Option oder Gefahr wäre. Wir könnten auf der einen Seite, dort wo es angebracht wäre, allgemeine Menschenrechte fordern, auf der anderen Seite könnten wir, ebenfalls da wo es angebracht wäre, individuellen Bedürfnissen entsprechen (z.B. beim Tragen religiöser Symbole). Sicherlich würde uns dieser Spagat oft paradox erscheinen. Gerade deshalb schlägt Haraway den Trickster als Vorbild vor, der, als mit Ironie ausgestatteter Gestaltenwandler weiß, dass er immer wieder zu Handlungen und Entscheidungen gezwungen ist, die, in Intention und Auswirkung, nie zu hundert Prozent mit seiner Situierung zusammen fallen, sondern immer wieder zu neuen Diffraktionen führen. Aber gerade die dadurch entstehenden Verschiebungen von Bedeutungen und Körpern, sind der Kern der schöpferischen Kraft, die dem Trickster in alten Mythen zugeschrieben wird.

„The point is to make situated knowledges possible in oder to be able to make consequential claims about the world and on each other. Such claims are rooted in a finally amodern, reinvented desire for justice and democratically crafted and lived well-being” (Haraway 1997, S. 267).

Bibliographie

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  • Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M., 1991.-    Butler, Judith: Bodies that matter. On the discursive limits of “sex”. New York/London, 1993.
  • Duden, Barbara: Postmoderne Entkörperung – Das System unter der Haut. In: Bohnacker, Anke et. al. (Hrsg.): Körperpolitik mit dem Frauenleib. Kassel, 1998.
  • Funk, Julika und Cornelia Brück (Hrsg.): Körper-Konzepte. Literatur und Anthropologie, Band 5, Gerhart v. Graevenitz (Hrsg.). Tübingen, 1999.
  • Gugutzer, Robert: Leib, Körper und Identität. Wiesbaden, 2002.
  • Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a.M., 1995a.
  • Haraway, Donna: Monströse Versprechen: Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft. Hamburg/Berlin, 1995b.
  • Haraway, Donna: Modest_Witness@Second_Millenium. FemaleMan©_Meets_OncoMouse™. New York/London, 1997.
  • Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a.M., 1998.
  • Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt a.M., 2001.
  • Lem, Stanislaw: Gibt es Sie, Mister Johns? In: Lem, Stanislaw: Nacht und Schimmel. Frankfurt a.M., 1971.
  • polymorph (Hrsg.): (K)ein Geschlecht oder viele? Transgender in politischer Perspektive. Berlin, 2002.
  • Smiljanic, Mirko: Mit Gedanken Computer steuern. Internetseite: www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-forschak/28332.html vom 13.8.2003. Gelesen 8/03.
  • Weinberg, Manfred: Körper von Gewicht? Wilhelm von Humboldt und Judith Butler. In: Funk, Julika und Cornelia Brück (Hrsg.): Körper-Konzepte. Tübingen, 1999.

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