Das Fleisch der Welt

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Gestalt und Bedeutung

Arne Naess, der Begründer der Tiefenökologie beruft sich in seinem Buch Ecology, Community and Lifestyle (Naess, 1989) auf die Gestalttheorie – eine Theorie, die ursprünglich aus der Psychologie der Wahrnehmung kommt und in vielen Punkten mit dem schon Gesagten übereinstimmt bzw. die Erklärungen dazu geliefert hat. Merleau-Ponty selbst war von der Gestaltpsychologie beeinflusst. Eine Gestalt ergibt sich aus der ganzheitlichen Betrachtung komplexer Zusammenhänge und erschließt damit Bedeutung. Eine Melodie z.B. nehmen wir nicht als in zeitlicher Folge abgespielte Töne wahr, sondern eben als Melodie. Oft können wir schon aus den ersten Tönen die Melodie erkennen. Es passiert dasselbe wie beim Bild der Giraffe. Gestaltdenken ist damit ein wesentlicher Aspekt der Kunst. Auch hier ergibt sich die Bedeutung eines Kunstwerkes nicht nur aus dem Kunstwerk an sich, sondern aus dem Zusammenhang von Beobachter und Beobachtetem, von Vorwissen, Erwartungen, Meinungen, von Umfeld und Situation. Nicht umsonst schreiben viele Philosophen der Ästhetik einen besondern Stellenwert als Erkenntnisdisziplin zu. Arne Naess schreibt, dass die Gestalt das Ich und das Nicht-Ich in einem Ganzen verbindet. Freude wird nicht meine Freude, sondern etwas Freudiges, an dem ich und etwas anderes zusammenhängend teilhaben. (Naess, 1989, S.60) In einer Videodokumentation spricht Naess über die Gründe, die zu ökologischem Handeln führen können. Wenn wir in einen Wald immer tiefer und tiefer eindringen, dann werden wir irgendwann ein Gebiet im Wald erreichen, das wir als Herz des Waldes bezeichnen können. Diese Vorstellung entspringt dem Gestaltdenken. So wie wir hinter den einzelnen Blättern des Mauerlattich eine nicht zufällige Formgebung erkennen können, erschließt sich uns im Zentrum des Waldes eine Qualität, die wir als schützenswert wahrnehmen und erkennen. Soll nun eine Straße durch den Wald gebaut werden, wird diese Gestalt zerstört, auch wenn die Straße vielleicht nur einen sehr geringen Flächenanteil des Waldes selbst zerstört. Das, was den Wald als Wald ausmacht, die Ganzheit vielfacher, komplexer Vorgänge zwischen Pflanzen, Tieren, Spaziergängern, der Atmosphäre, dem Netz der Nahrungsketten und Symbiosen, der Ursprünglichkeit und der Einsamkeit inmitten des Lebens, geht verloren. Für Naess Grund genug sich gegen den Bau der Straße einzusetzen. So glaubt er auch, dass die zunehmende Fixierung auf wissenschaftliche Beobachtungs- und Analysemethoden, mit denen wir nur die Objekte messen und daraufhin unsere Entscheidungen treffen dazu führt, dass wir unsere Fähigkeiten zur Gestaltwahrnehmung verlieren. Da aber gerade diese Art der Wahrnehmung Sinn und Bedeutung schafft, führt der Verlust dieser Fähigkeit zu einem Anstieg einer allgemeinen Ohnmacht und dem Gefühl der Sinnlosigkeit (Naess, 1989, S.63). Diese Sicht wird auch von vielen Ökopsychologen geteilt, die in der sinnlichen und sinnvollen Einbindung des Menschen in seine natürliche Umwelt Möglichkeiten zur Therapie sehen. (Roszak, Gomes, et al., 1995).

Viele Welten

Merleau-Ponty bezieht sich in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung noch sehr stark auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Später beginnt er, den unbenannten Raum, in dem Sinn entsteht, in den Vordergrund zu heben. Er nennt diesen Raum das Fleisch. Das Fleisch versteht er als formendes Milieu für Subjekt und Objekt, als ein Element des Seins selbst. (Merleau-Ponty, 1986). Man könnte vermuten, dass Merleau-Ponty hier eine dritte Welt in Gedanken hatte, die zwischen der subjektiven und der objektiven Welt vermittelt, mithin eine feinstoffliche Qualität aufweise. Eine solche Übertragung in eine 3-Welten-Theorie, wie z.B. Marco Bischof sie diskutiert, wäre in der Tat denkbar. Wenn Marco Bischof über feinstoffliche Felder schreibt: „Zu ihrer grundsätzlichen Charakterisierung kann man sagen, dass sie die Art der Realität darstellen, die entsteht, wenn wir uns als Wahrnehmende nicht vom Wahrgenommenen trennen,“(Bischof, 2002, S.249) so entdecken wir unverkennbar Goethes Auffassung von Beobachtung und bewusstem Sehen wieder. Auch Merleau-Pontys Leib als erkenntnisfähige Instanz ist als wahrnehmend nicht vom Wahrgenommenen zu trennen. Das Fleisch nun soll den Sinn noch weiter aus den Kategorien Subjekt und Objekt trennen, ist das Element des Seins selbst. Sicher ist, dass hier eine Erkenntnisweise beschrieben und angeboten wird, die eine Alternative zur objektivierenden Wissenschaft darstellt und in der Bereiche integriert werden können, die ansonsten als Erkenntnisquellen abgelehnt werden, wie z.B. Emotionalität und Spiritualität, Naturerlebnisse und zwischenmenschliche Erfahrungen. Also jene Bereiche, die als feinstofflich beschrieben werden können.

Ich denke jedoch, dass Merleau-Pontys Ansatz noch darüber hinausweist und uns eine Alternative eröffnet, die noch weiter reicht. Er legt vor allem in seinen letzten unvollständigen Aufzeichnungen kurz vor seinem frühen Tod Grundsteine für eine Philosophie, die in letzter Konsequenz auf eine Abschaffung der Kategorien Subjekt und Objekt hinausläuft und diese höchstens noch als mögliche Ausprägungen des Seins, nicht aber mehr als Seinssphären begreift. (Merleau-Ponty, 1986, S.41). Letztendlich möchte er nicht vermitteln im Sinne einer dritten Welt. Sein Fleisch ist nicht zwischen Subjekt und Objekt angelegt, wie ein Fluss zwischen zwei Ufern liegt. Er möchte auch nicht die traditionellen zwei Welten durch eine einzige Welt ersetzen. Einen unmittelbaren Ausdruck des Fundamentalen oder eine absolute Metaphysik, wie er sie bei Heidegger vermutet, lehnt er ab. Er sucht vielmehr nach einer Möglichkeit unsere Erkenntnis in einer Vielzahl von möglichen Situationen als sich je im Interagieren konstituierende Welten zu erfassen. „Was es gibt sind Welten und eine Welt.“ (Merleau-Ponty, 1986, S.156)

Zeitgenössische Philosophen, die ebenfalls an der Auflösung abendländischer Dualismen arbeiten, gelangen, ohne sich auf Merleau-Ponty zu berufen, zu ähnlichen Schlüssen. Donna Haraway, die unter anderem zu ökofeministischen Themen schreibt, spricht in ihrem Buch Die Neuerfindung der Natur (Haraway, 1995) davon, Subjekte und Objekte durch ein Konzept von Akteuren abzulösen. Somit ist alles, Mensch, Tier, Pflanze und Ding, Akteur und schafft in Interaktion Bedeutung und damit die Möglichkeit zur Erkenntnis. Das aus diesen komplexen Interaktionsprozessen entstehende Wissen ist jedoch immer situativ und nie universell. Haraway, die ursprünglich Biologin und Primatologin ist, sieht in diesem Konzept von situativen Wissen die Möglichkeit zu wissenschaftlicher Arbeit ohne in die Hierarchien des Subjekt/Objekt Dualismus zu verfallen. Gleiches hat Bruno Latour im Sinn, wenn er im Rahmen einer politischen Ökologie die Dinge in ein gemeinsames metaphorisches Parlament berufen möchte (Latour, 2001). Auch für ihn sind die Dinge nicht bloße Objekte, sondern vergleichbar Haraways Akteuren. Wie Parlamentarier Gesetzt konstituieren, konstituieren die Akteure die Wirklichkeit.

Worauf aber führt das alles hinaus? Wie wir Anfangs gesehen haben, sind mit den Dualismen der abendländischen Philosophie viele philosophischen und politischen Probleme verbunden. Gleichzeitig bauen die meisten Philosophien, die auf diesen Dualismen beruhen Hierarchien auf, die bestimmte Arten des Wissens anderen vorziehen. Mit einer Philosophie, die sich diesen Dualismen entzieht, ist es möglich, verschiedene Erkenntnismöglichkeiten und Seinsweisen nebeneinander stehen zu lassen und in einen Dialog zu bringen. Erkenntnisse, die aus spirituellen, intuitiven oder emotionalen Zusammenhängen gewonnen werden, stehen dann gleichberechtigt neben den Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften. Das wahrgenommene Leiden eines Schweins im Maststall kann nicht mehr mit Verweis auf empirisch nicht zu beweisende Leidensfähigkeit kleingeredet werden, die Zerstörung von Landschaften nicht mehr mit ökonomischen Interessen gegenüber den Interessen der Landschaft selbst gerechtfertigt werden. Gleichzeitig gibt uns eine Phänomenologie der Wahrnehmung wie hier beschrieben, die Möglichkeit unser Sein und Handeln in bedeutsamen Zusammenhängen zu sehen.

Geomantie als phänomenologische Disziplin in diesem Sinne gesehen, hätte demnach die Aufgabe, das Sein und die Bedeutung von Orten, Landschaften, Habitaten und Ökosystemen zu ergründen. Daraus ließen sich Methoden entwickeln, zerrissenen und fragmentierten Gestalten wieder zu ihrer Ganzheit zu verhelfen, wie ein Komponist ein zerrissenes Notenblatt wieder zusammenfügt und fehlende Takte ergänzt, um aus Tonfragmenten wieder eine Melodie zu schaffen.

Die Frage nach einem sinnlichen Zugang zur Welt stellt sich aus der hier vorgestellten Perspektive nicht mehr. Der Zugang ist immer schon gegeben, die Trennung zwischen uns und der Welt eine hypothetische. David Abram, der Autor von The Spell of the Sensous (1996) betonte bei einem Vortrag nach den Anschlägen vom 11. September die Notwendigkeit sich nicht mehr auf Modelle zu stützen, die diese Welt durch eine verborgene Welt erklären wollen, sei dies die Welt der Quantenmechanik, die Welt der Psychologie, die Welt der reinen Ideen oder religiöse Jenseitsvorstellungen, sondern dass wir unser Wissen, unsere Erkenntnisse und unseren Sinn im Hier und Jetzt, im Miteinander der erfahrbaren Welt finden. Nur so sei es möglich dieser Welt und all ihren Bewohnern wieder die Wertschätzung entgegenzubringen, die ihr gebührt.

Abbildungen:

Abbildung 1: Müller-Lyersche Täuschung
Abbildung 2: Muster
Abbildung 3 Giraffe aus: (Bortoft, 1996)
Abbildung 4 Mauerlattich, Blattreihen aus: (Böhme und Schiemann, 1997)

Bibliographie
1. Abram, David 1996: The spell of the sensuous. Vintage, New York.
2. Bischof, Marco 2002: Tachyonen, Orgonenergie, Skalarwellen. Feinstoffliche Felder zwischen Mythos und Wissenschaft. AT Verlag, Aarau.
3. Böhme, Gernot und Gregor Schiemann (Hrsg.) 1997: Phänomenologie der Natur. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
4. Bortoft, Henri 1996: The wholeness of nature. Goethe’s way towards a science of conscious participation in nature. Renewal in science, Lindisfarne, New York.
5. Goethe, Johann Wolfgang von 1998: Naturwissenschaftliche Schriften I. Werke, Hamburger Ausgabe, Band 13, DTV, München.
6. Haraway, Donna 1995: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Campus, Frankfurt a.M.
7. Latour, Bruno 2001: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
8. Merleau-Ponty, Maurice 1966: Phänomenologie der Wahrnehmung. Phänomenologisch-psychologische Forschungen, Band 7, Graumann, C. F. et al. (Hrsg.). de Gruyter, Berlin.
9. Merleau-Ponty, Maurice 1986: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Waldenfels, Bernhard (Hrsg.). München.
10. Naess, Arne 1989: Ecology, community and lifestyle. Rothenberg, David (Hrsg. und Übers.). Cambridge University Press, Cambridge.
11. Roszak, Theodore; Mary E. Gomes und Allen D. Kanner (Hrsg.) 1995: Ecopsychology. Sierra Club Books, San Francisco.