Ich habe überwiegend positive bis enthusiastische Kommentare auf meinen Brief an Frauke Petry erhalten (auf Facebook) aber, interessanterweise auf dem Oya-Blog auch welche, die die AfD verteidigen und meine Werte und Intentionen in Frage stellen. Seltsam! Aber diese Gespräche führe ich in letzter Zeit öfter und ich finde, es ist an der Zeit für etwas demokratische Basisbildung und Staatsbürgerschaftskunde:
Ich habe ein sehr eindeutiges Wertesystem, auf dem mein Brief an Frauke Petry basiert: Es heißt Demokratie und Mitmenschlichkeit, und die sehe ich momentan in Gefahr. Und diese Gefahr geht meiner Überzeugung nach von einigen Menschen und Gruppen mehr aus als von anderen, weil diese bestimmte Grenzen überschreiten und Prinzipien in Frage stellen, für die Generationen von Freiheitskämper*innen gestritten und gelitten haben, erschossen oder ins Gefängnis geworfen wurden und auf deren Siegen unsere Freiheit heute basiert. Indem einige Menschen momentan diese Prinzipien in Frage stellen, stellen sie sich außerhalb eines demokratischen, liberal bis libertären, an sozialer und ökologischer Gerechtigkeit orientierten Weltbilds. Das anzuprangern, anzumahnen und diesen Menschen und ihren Interessen Widerstand zu leisten ist unser aller Aufgabe und Verpflichtung, sobald eine Verständigung auf Basis der Werte und Prinzipien nicht mehr möglich ist. Ich beschreibe diese Prinzipien weiter unten.
Vorher aber noch ein Wort zur real existierenden Demokratie: Ja, sie ist nicht schön und dreckig und es gibt vieles an ihr zu verbessern. Daran arbeite ich beruflich und privat. Zum Beispiel mit meinem Buch »In unserer Macht« und mit der Arbeit meines Instituts. Und ich hoffe viele andere arbeiten auch dran, dass sich diese Demokratie weiter in Richtung Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit entwickeln kann, vielleicht sogar hin zu einer utopisch-an-archischen Gesellschaftsform, die aber ebenfalls auf den genannten Prinzipien beruhen müsste. Und auch nach einem Besuch auf Kuba kürzlich, halte ich an der Aussage meines Essays fest: Bei aller Kritik leben wir in Europa und in Deutschland in einer Demokratie und offenen Gesellschaft, die ich – bis hierhin! – zu den besten zähle und die wir evolutionär weiterentwickeln sollten. Auch unser Grundgesetz ist eine der besten Verfassungen, die ich kenne. Ja, man kann über bessere nachdenken, aber auf keinen Fall sollten wir dahinter zurückfallen. Was ist für mich das Gegenteil all dessen? Autokratie, Populismus und Totalitarismus gehören in jeder Form ins Museum der Geschichte, wo wir vielleicht noch etwas lernen können. Jeder Ruf nach starken Männern, jede Untergrabung der Demokratie, jede Meinungsmache auf dem Rücken von Minderheiten, jedes Spiel mit den Ängsten der Menschen, ist per se und kategorisch abzulehnen, egal für welchen Zweck. Leider gilt all das zunehmend wieder als diskursfähig und als einfache Optionen, für viele, denen einfache Lösungen attraktiv erscheinen. Hier schaue ich ganz direkt zu Pegida, der AfD und anderen aktuell starken rechtspopulisitischen Strömungen. Das halte ich für falsch und gefährlich.
Es gibt objektive Kriterien und Prinzipien, die zeigen, ob sich jemand im freiheitlich-demokratischen Rahmen oder im autokratisch-totalitären Rahmen bewegt, unabhängig davon, ob ich dessen politische Meinungen und Handlungen gutheiße. Und darauf basiert auch mein Brief an Frauke Petry.
1. Allgemeines Wahlrecht:
Jemand, der das in Frage stellt oder es unterhöhlt, steht für mich außerhalb einer demokratischen Entwicklung. Also, wer anderen die Wahl verweigert oder das Wahlsystem unterläuft ist für mich raus: Dazu gehört die seltsame Medwedjew-Putin Rochade, die gläserne Urnen-Kalaschnikow Wahlen auf der Krim, die Einführung eines türkischen Präsidialsystems, jede Verhängung von Ausnahmezuständen und die Einschüchterung oder der Ausschluss von Minderheiten und Bevölkerungsgruppen von Wahlen. Ja, das passiert in Teilen auch in der USA und in geringerem Maße auch bei uns. Es gibt aber einen qualitativen Unterschied zwischen offener von oben verordneter Wahlmanipulation unter Einsatz staatlicher Institutionen und der systematischen Missachtung von nationalen und internationalen Gesetzen und Abkommen einerseits und versteckten und rechtlich anfechtbaren Wahlmanipulationen einzelner Gruppierungen innerhalb eines Staates andererseits. Allein die Zulassung von OSZE-Beobachter*innen ist tatsächlich für mich ein Kriterium für die generelle Glaubwürdigkeit einer Wahl. Wer nicht schummeln will, braucht diese Beobachter*innen nicht zu fürchten. Es ist übrigens auch ein Unterschied, ob sich Politiker Wahlen stellen und abtreten, wenn die Zeit gekommen ist, oder versuchen das eigene System auszutricksen. Ersteres trifft, ob man sie sonst mag oder nicht, für Merkel, Obama etc. zu, aber nicht z.B. für Putin und Erdogan.
2. Minderheitenschutz:
Minderheitenschutz gilt im Parlament als auch außerhalb. Die pauschale Aufhebung der Immunität von Abgeordneten auf Grund Ihrer Zugehörigkeit zu einer Partei oder ethnischen Gruppe geht nicht, ebenso geht es nicht, dass Minderheiten wie z.B. Homosexuelle unterdrückt und verfolgt werden. Pauschalisierungen gegenüber Minderheiten wie Flüchtlingen oder die Kriminalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen sind ein No-Go. Dass es im 21. Jahrhundert in Deutschland wieder eine Partei gibt, die offen gegen Homosexuelle ist und Flüchtlinge kriminalisiert ist ein trauriges Armutszeugnis.
3. Rechtsstaatlichkeit:
Ja, Rechtsstaaten machen Fehler und die Todesstrafe gehört weltweit abgeschafft, das sage ich gerade auch mit Blick auf die USA, in deren Rechtssystem einiges im Argen liegt. Aber zumindest in der EU kann man davon ausgeben, dass ich weiß, wofür und in welchem Maß ich rechtlich verfolgt werden kann (wie immer, von Fehler und Ausnahmen abgesehen). Die Säuberungen in der Türkei hingegen sind reine Willkür und bedrohen die Existenz tausender Familien auf der Basis von Rache, Phobie und Verleumdung. Natürlich hat die Türkei das Recht, Putschisten zu verfolgen, aber nur auf der Basis von Beweisen und fairen Verfahren. Das findet nicht statt.
4. Pressefreiheit:
Ja, die gibt es in Deutschland, lasst mal bitte die Kirche im Dorf! Jeder kann zu jedem noch so absurden Thema publizieren. Dass die Mainstreammedien eben Mainstream sind, wahrscheinlich wenig mutig und zunehmend wenig investigativ und einem enormen Marktdruck unterliegen (bis hin zum einzelnen Journalist) ist ein anderes, zu Recht zu kritisierendes Thema, hat aber nichts mit gezielter staatlicher Desinformation zu tun. Ganz anders sieht es da schon bei einem Sender wie RT aus oder schaut mal venezuelanisches Staatsfernsehen, wo unverhohlen Regierungswerbung betrieben wird und oppositionelle Stimmen gar kein Gehör finden. Das ist ein himmelweiter und objektiver Unterschied. Im übrigen bin ich erstaunt, wie ein Medium wie Facebook momentan immer wieder als Positivbeispiel glaubwürdigen Journalismus herhalten muss, obwohl hier offensichtlich jeder seine Meinungen posten kann.
5. Mitmenschlichkeit:
Um diese ging es in meinem Brief an Frau Petry vor allem. Niemand, der nicht selbst auf Abwege geraten ist, kann ernsthaft die Internierung von Menschen auf Inseln vorschlagen, insbesondere wenn diese Menschen aus einem Kriegsland fliehen. Niemand, der empathiefähig ist, kann heute noch ernsthaft Menschen auf Grund ihrer Religion, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung diskreditieren. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter! In Zeiten von Konflikten verlieren viele Menschen leider ihren Anstand und ihre Mitmenschlichkeit. Angst macht sowas. Das ist verständlich. Aber es ist nicht zu tolerieren und schon gar nicht von politischen Vorbildern.
Also eine Bitte an alle: Denkt frei, mutig, unkonventionell und jenseits ausgetretener Pfade, aber bleibt dabei selbstkritisch, dialogfähig, würdigt und ehrt, wofür andere hart und oft blutig gekämpft haben, wie das allgemeine Wahlrecht, die Meinungs- und Pressefreiheit, die Rechtsstaatlichkeit oder den Minderheitenschutz und blickt mit Liebe und Mitgefühl auf Eure Mitmenschen. Fragt immer: Ist es Liebe oder Hass, ist es Mut oder Angst, ist es Enttäuschung oder Hoffnung, die mich zu einem Schluss führt. Wir haben noch viel zu tun, keine Frage. Aber auch künftige freiere Gesellschaften werden die genannten Prinzipien brauchen und es ist zu hoffen, dass sie besser umgesetzt werden als momentan bei uns. Lasst Euch nicht von autokratischen und vermeintlich stärkeren Systemen blenden! Wehret den Anfängen!»