Veröffentlicht in Hagia Chora 20, 2005
Das Erzählen von Geschichten knüpft Bande zwischen inneren und äußeren Landschaften
„Wo die Hand nur hin sie streckte,
Da entstanden Landespitzen,
Wo sie mit dem Fuße ruhte,
Da grub sie den Fischern Grotten,
Wo ins Wasser sie sich tauchte,
Senkten sich des Meeres Tiefen.
Wo die Hüften hin sie wandte,
Da erschienen ebne Ufer,
Wo den Fuß zum Land sie lenkte,
Da entstanden Lachsesschluchten,
Wo der Kopf dem Lande nahte,
Da erwuchsen breite Buchten.
Schwamm noch weiter von dem Lande,
Ruht` ein wenig auf dem Rücken,
Schuf so Klippen in dem Meere,
Riffe, die dem Aug` verborgen,
Wo die Schiffe oft zerschellen,
Wo der Männer Leben endet.
Schon geschaffen waren Inseln,
Klippen in dem Meer begründet,
Festgestellt der Lüfte Pfeiler,
Flur und Felder schon umgerissen,
Väinämöinen nur, der Sänger,
War und blieb noch ungeboren.
S.15/16 (Kalevala, 1998)
Es gibt diese besonderen Orte in der Landschaft, die einen plötzlich und ohne Ankündigung überraschen, bestürzen, rühren, treffen. Es ist, als würde man plötzlich und unerwartet von jemandem gerufen, angerempelt oder auch sacht umarmt werden. Vielleicht ist es auch gar nichts Gewaltiges, sondern nur ein leichtes Kribbeln im Nacken, einige Bilder, die wie Wolkenfetzen vor dem inneren Auge vorbeiziehen und verschwinden, bevor man sie festhalten kann, eine leichte Beklemmung, Freude oder das Gefühl mit der Umgebung zu verschmelzen. Dann ist man gezwungen stehen zu bleiben, seine Sinne nach dem Grund für diese Überraschung auszurichten, seine Gedanken zu unterbrechen und sich auf die Wahrnehmungen einzulassen, die Besitz von einem ergriffen haben. Oft lässt sich die Ursache schnell ausmachen: nach einer langen Wanderung stehen wir plötzlich am Rande der Steilküste, unter uns rollt die Brandung gegen den Fels und schickt dumpfes Rauschen und ein vibrierendes Prickeln in den Füßen zu uns hinauf. Oder wir sind gerade aus dem Wald herausgetreten und vor uns öffnet sich ein sonnenüberflutetes Tal mit leuchtenden Wiesen, blühenden Blumen und verstreut getupften Bauernhäusern. Vielleicht hat uns aber auch nur ein alter Baum zu einem Picknick unter seinem rauschenden und Schatten spendenden Dach so eindringlich aufgefordert, dass ein Weitergehen unmöglich war; oder der Bach sehnte sich danach unsere Hände, Füße und Gesicht zu benetzen. Möglich aber auch, dass wir des Nachts schnell versuchen aus der feucht-düsteren Senke zu gelangen, dass ein grober schwerer Fels drohend über uns ragt und wir ihm eingeschüchtert und trotzig zugleich unsere Stirn bieten oder dass ein majestätischer Gebirgszug uns klein und unbedeutend erscheinen lässt.
Meist sind es diese kleinen und großen Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle, aus denen sich unsere Geschichten zusammen setzten, wenn wir anderen von unseren Ausflügen, Spaziergängen und Reisen erzählen. Niemand käme auf die Idee, die Schritte eines Spazierganges zu zählen oder penibel jede Kurve und Biegungen eines Ausfluges zu erläutern. Selbst wenn wir einen halben Tag gewandert wären und uns nur ein halbe Stunde an einem besonderen Ort aufgehalten hätten; unsere Erzählungen würden deutlich länger an diesem Ort verweilen als auf der langen Strecke zu diesem Ort hin. Die Orte, die in uns besondere Gefühle oder Assoziationen geweckt haben, an denen wir besonderes erlebt haben, schieben sich als synästhetische Collagen in den Vordergrund unserer Erinnerung. Sie werden gleichermaßen Teil unserer persönlichen Geschichte und der Geschichte der Landschaft um uns herum, sie werden zu „landmarks“, zu Markierung damit wir uns wiedererinnern und wiederfinden können. Anhaltspunkte für unsere Gedanken und Gefühle, Hinweise für unsere Wege, Punkte des Wiedererinnerns und Wiederfindens in inneren und äußeren Landschaften. Wen wundert es da, wenn viele traditionelle Sagen, Legenden und Mythen gleichermaßen tief in die Textur der Landschaft eingewoben sind, wie in das Leben und die Identität der Menschen, die in dieser Landschaft leben?
Auf einer Reise durch die Bretagne kam ich unweigerlich an einer großen Ansammlung von Menhiren vorbei. Ein doppelt gereihtes Schiff aus Monolithen sparte ein großes Areal zwischen landwirtschaftlichen Nutzflächen am Rande eines Dorfes aus. Der Ort an dem ich eigentlich Erhabenheit, Mystik und Ruhe erwartet hatte, stellte sich mir als runtergekommenes Picknickgelände vor. Die Erde zwischen den Steinen war von den Tritten der Touristenscharen hart gestampft, Müll lag unter den grau verstaubten Dornenbüschen. Einige der Steine waren umgeworfen, einige fehlten, wieder einigen hatte man Stücke herausgebrochen und an einem Ende des Schiffes schnitt eine Schnellstraße das Ensemble entzwei. Statt Erhabenheit erwartete mich hier Abweisung. Der Ort wirkte trotz seiner ursprünglichen Majestät erniedrigt wie ein Adler in einem Käfig. Ich wunderte mich darüber, kamen doch so viele Menschen extra hierher, um diese Menhire zu besuchen und nicht wenige ebenso wie ich mit dem Wunsch, diesen Ort gleichermaßen zu würdigen und sich dabei inspirieren zu lassen. Erst viel später, als ich bei der Vorbereitung eines Geschichtenerzählabends ein Buch mit Sagen aus der gleichen Gegend der Bretagne durchblätterte, kam ich dem Rätsel näher. Ich fand tatsächlich eine Geschichte über genau diese Steine und mir fiel es wie Schuppen von den Augen.
Die Geschichte handelte von einem armen Knecht, der sich unsterblich in die Tochter des reichsten Bauern aus der Gegend verliebt hatte. Kelho, der Knecht wusste genau, dass ihm die nötigen Mittel fehlten, die es ihm auch nur möglich machen würden, um die Hand der schönen Tochter zu bitten. Fromm wie er war, betete er Tag und Nacht dafür, dass ihm irgendwann einmal eine Gelegenheit geboten würde, zum nötigen Reichtum zu kommen. Es war in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Auf dem Hof gab es kaum etwas zu tun und Kelho vertrieb sich die Zeit damit, mit Hammer und Meißel in den größten Menhir im Steinfeld ein Kreuz zu schlagen, um die teuflischen Steine von ihrem Fluch zu befreien. Da kam ein Bettler auf ihn zu, der in der ganzen Gegend als Hexenmeister bekannt war. Dieser Bettler hatte in der heiligen Nacht in einem Stall geschlafen. In der Weihnachtsnacht aber können alle Tiere, die bei Jesus Geburt in Bethlehem dabei waren, sprechen und der Bettler hatte heimlich gehört, wie sich ein Esel und ein Schaf darüber unterhielten, dass dieses Jahr wie alle 100 Jahre in der Neujahrsnacht die großen Menhire zum nächsten Fluss trinken gehen würden. Dann könne man die Schätze, die sich unter ihnen befinden bergen, aber nur, wenn man ein unheiliges Amulett besäße, dass einen vor den Steinen schützt, die einen sonst zu Tode trampeln, wenn sie vom Trinken zurückkehren. Außerdem müsse das Blut eines Menschen fließen, sonst würden sich die Schätze später wieder in Luft auflösen. Der Bettler fasste daraufhin den Plan, sich diese Schätze zu holen. Er hatte sich das Amulett besorgt und brauchte nun jemanden, dessen Blut in der Neujahrsnacht vergossen werden konnte. Da kam ihm Kelho gerade Recht. Der Bettler schwätzte Kelho in das Abenteuer hinein mit dem Versprechen, dass dieser nach der Neujahrsnacht genug Geld haben würde, um seine Liebste heiraten zu können. Den Teil mit dem Amulett und dem Menschenblut verschwieg er. In der Neujahrsnacht schlichen sich der Bettler und Kelho an das Steinfeld heran. Und tatsächlich: gegen Mitternacht begann ein gewaltiges Poltern und Rumoren, die Erde begann zu beben. Ein dichter Nebel zog über dem Boden auf und die gewaltigen Steine glitten an den beiden vorbei in Richtung Fluss. Dort wo die Steine gestanden hatten jedoch, hatten sich tiefe Löcher im Boden wie geheime Brunnenschächte geöffnet, die bis oben hin mit Gold, Edelsteinen und anderen Kostbarkeiten gefüllt waren. Die beiden stürzten sich sofort auf die Schätze und begannen eilig so viel wie möglich in ihre Jutesäcke zu stopfen. Aber nicht lange, da hörten sie das Rumpeln und Dröhnen wieder und ehe sie sich versahen, stürzten die Steine zurück und hielten geradewegs auf die beiden Männer zu. „Um Gottes Willen“, schrie Kelho, „sie werden uns zertrampeln!“. „Dich vielleicht,“ kreischte da der Hexer und hielt sein Amulett in die Höhe. Tatsächlich machten die Steine einen großen Bogen um ihn und steuerten nun direkt auf den armen Kelho zu. Doch da schob sich plötzlich der große Stein, in den Kelho vor einigen Tagen das Kreuz geschlagen hatte, schützend vor ihn, bis alle anderen Steine wieder auf ihren Plätzen waren. Der Hexer starrte erstaunt und ungläubig, als sich der große Stein plötzlich umwandte, auf ihn zuschoss, über den Hexer hinweg fegte und ihn unter sich zerquetschte, bevor auch er seinen alten Platz wieder einnahm. Kelho stand plötzlich allein mit seinen Säcken voller Schätzen zwischen den Steinen, die unbeweglich wie seit ehedem im Mondlicht ihre Schatten warfen. Und da in dieser Nacht das Blut eines Menschen geflossen war, blieben ihm seine Schätze erhalten. Er kauft sich ein großes Gehöft und konnte schon bald seine Geliebte heiraten.
Ich war entsetzt, als ich die Geschichte zu Ende gelesen hatte. Abgesehen davon, dass sie jeden guten Geschmack heutiger politischer Korrektheit verletzt, wurde mir wieder einmal deutlich, wie stark der Einfluss von Geschichten sein kann. Ich hatte mich schon einmal mit der Christianisierung der Bretagne beschäftigt, als ich eine ähnlich blutrünstige und brutale Geschichte, die der Stadt Ys, recherchiert hatte. Offensichtlich haben die Missionare der Bretagne lokale Besonderheiten auf besonders perfide Weise ausgenutzt, indem sie sich die Landschaft und ihre Landmarks als Verbündete wählten, um alte Geschichten und Bedeutungen umdeuten zu können, ohne dabei die Kontinuität alter Legenden und Bräuche brechen zu müssen. Die wichtigen Orte der Landschaft und damit wichtige Zeichen, Metaphern und Markierungen innerhalb der kulturellen und emotionalen Landschaften der Menschen blieben in ihren Geschichten erhalten, doch ihre Kraft wurde nach Belieben für die eigenen Zwecke benutzt. Fundamentalisten jeglicher Couleur haben sich dieser Magie aus Geschichten und Orten zu allen Zeiten mit mehr oder weniger Erfolg bedient. Katholische Missionare jedoch beherrschten diese Technik weitaus besser als z.B. die Machthaber des Ostblocks, die Städte und Straßen umbenennen ließen oder die Neoliberalen heutiger Zeit, die aus dem Arbeitsamt die Agentur für Arbeit und aus dem Schaffner den Zugbegleiter machten. Denn die katholischen Missionare hatten ein weitaus größeres Feingefühl für das traditionell gewachsene Geflecht aus Orten, Landschaften, kulturellen Bräuchen, der Spiritualität und den Emotionen der in ihren Landschaften verwurzelten Menschen. Waren die Missionare tatsächlich mächtige Zauberer auf diesem Gebiet, so waren die kommunistischen Bürokraten Lehrlinge und die heutigen Neoliberalen Taschenspieler, deren Tricks jeder durchschaut. Aber warum spreche ich von Magie und Zauberei, wo es doch scheinbar nur darum geht, wie Geschichten über Orte erzählt worden sind und erzählt werden?
In allen Kulturen dieser Welt gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Schöpfung, Wörtern und Musik, wobei letzteres für mich zusammengehört. Sprache, das Erzählen von Geschichten, Poesie, Singen und Musik sind für mich Schattierungen der selben kreativen Betätigung und Auseinandersetzung mit der Welt. Ob Gott sprechend die Welt schöpft, ob Coyote und Fuchs tanzend die Erde herbeisingen oder ob Väinämöinen, der Sänger und Zauberer der Kalevala seine eigene Geschichte singend erlebt und dabei die Erde formt: für mich sind das Variationen des gleichen Themas. Die Welt, die Erde, Landschaften und Orte nehmen erst durch Geschichten Bedeutung an, werden erst durch Geschichten erlebbar, erfahrbar, spürbar, fassbar, begreifbar. Geschichten bilden die unsichtbaren Bande, die die verschiedensten Elemente, Phänomene, Dinge und Personen zueinander in Beziehung setzen und aneinander teilhaben lassen. Geschichten formen das Fleisch der Welt (vgl. Hagia Chora 15). Sie machen Handlungen, Bezugnahme und Sinn erst möglich, da sie die Verhältnisse der Dinge zueinander regeln und damit die Möglichkeit von Möglichkeiten überhaupt erst schaffen. Und das ist für mich Magie und Zauberei, wenn ich je davon gehört habe.
Man mag nun einwenden, dass Geschichten bloße Erfindungen seien, bestenfalls Metaphern, die die Welt bloß abzubilden versuchen. Mythen, so die einhellige Meinung heutzutage, sind vorwissenschaftliche Versuche, der Welt einen Sinn zu geben, um das zu erklären, was wir uns nicht erklären können und uns die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen. Und da ist sicherlich etwas dran, aber nur teilweise. Wer jemals eine Geschichte frei erzählt hat, dem wird folgendes aufgefallen sein: Die Geschichte ändert sich jedes mal, wenn sie erzählt wird. Vielleicht nur in unerheblichem Maße und doch: jede erzählte Geschichte ist einzigartig. Sie passt sich ihrer Umgebung an wie ein Chamäleon, wechselt die Stimmung passend der der Zuhörer, ändert ihre Länge anhand der Situation. Mal wirkt sie wie eine Drohung, mal wie eine Aufmunterung. Die gleiche Geschichte kann mal mit Freude, mal mit Ernst, mal mit Traurigkeit und mal mit Bestürzung erzählt werden, ohne dass der Erzähler eine bewusste Entscheidung darüber träfe. Diese Entscheidung welchen Verlauf und welche Stimmung eine Geschichte nimmt, wird durch den Kontext, die Situation, die Umgebung und die Hörer genauso beeinflusst, wie durch den Erzähler selbst. Denn Geschichten werden in dem Moment, in dem sie erzählt werden etwas Gemeinsames, Geteiltes. Während der Erzähler beim Erzählen Bilder von Personen und Landschaften vor sein inneres Auge beschwört, formen die Hörer gleichzeitig ihre ganz eigenen Bilder. Ben Haggarty, ein Geschichtenerzähler aus England, schreibt dazu: „Das ‚Kino des armen Mannes‘ ist eine starke Erfahrung“.(Haggarty, 1996) Denn während sich die Bilder in den Köpfen der Hörer formen, vergleichen sie die geschilderten Erfahrungen mit ihren eigenen Erfahrungen, ziehen ihre eigenen Schlüsse, setzen ihre eigenen Schwerpunkte und erzeugen ihre eigene Stimmung zu dieser Geschichte. Als Geschichtenerzähler erlebe ich es fast jedes mal, dass Leute zu mir kommen und begeistert von der Erfahrung des Zuhörens erzählen, die sie oft seit der Kindheit nicht mehr erleben konnten. Walter Benjamin schreibt in seinem Essay Der Erzähler, dass man während des Hörens einer Geschichte diese selbst weiterspinnt: „Je selbstvergessener der Lauschende, desto tiefer prägt sich ihm das Gehörte ein“.(Benjamin, 1961) Wer diese Gabe des aktiven, schöpferischen Zuhörens verliert, dem wird es auch schwer fallen, sich an Geschichten zu erinnern und diese selbst weiterzuerzählen. Denn ebenso wie wir uns nach einem Spaziergang nur an die Bilder erinnern, die sich besonders eindrücklich eingeprägt haben, so benötigen wir auch prägende Bilder, die uns beim Hören von Geschichten entstanden sind, um uns an Geschichten erinnern und sie weitererzählen zu können. Daher ist das Zuhören für eine lebendige Tradition des Erzählens unbedingt notwendig. Aus diesem Grund sind sich Erzähler darüber einig, dass es bei ihrer Kunst um Kommunikation und nicht um Vorführung geht. Anders als bei modernen Medien ist es entscheidend für das Erzählen, wer mit welcher Haltung in welchem Umfeld zuhört. Die Präsenz potentiell handelnder, nachfragender und (un-) aufmerksamer Zuhörer, ist ein konstituierendes Moment des Erzählens selbst. Erzählen die Hörer dann die Geschichten weiter, werden sich die Geschichten wieder wandeln und die Tradition lebendig halten. Eine solche lebendige Tradition ist wie eine Schöpfung auf Raten. Gerade große Erzählungen und Mythen wie die Mahabharata, die Mabinogion, die Edda, die Torah, die Popul Vuh, die Kalevala, die Odyssee und Ilias, Sundiatta, die Tain und Gilgamesh wurzeln in mündlichen Traditionen, in denen besondere Geschichten von unzähligen Menschen dieserart bewahrt, weitererzählt und -entwickelt wurden.(Haggarty, 1996) So können in mündlichen Traditionen wichtige Erfahrungen über viele Generationen weitergegeben werden, ohne dass sie an Relevanz oder Aktualität verlieren, denn diese wird gerade durch das Erzählen immer wieder von neuem hergestellt.
Es ist wichtig diese Zusammenhänge zu verstehen und am besten versteht man sie natürlich wenn man sich selbst Geschichten erzählen lässt oder Geschichten erzählt. Ein Text wie dieser kann die direkte Erfahrung nicht ersetzen. Geschichten sind aktuelle Kommunikation und Tradition zugleich. Sie lassen verschiedene Menschen an Erfahrungen teilhaben und diese Erfahrungen wechselseitig verarbeiten. So schöpft sich durch Geschichten der Sinn und die Bedeutung von Zusammenhängen. Weil Sinn und Bedeutungen so eng mit Geschichten verwoben sind, besitzen sie zum einen schöpferische Kraft aber auch die Macht Einfluss über Menschen auszuüben.
Doch Erfahrungen werden nicht ausschließlich unter Menschen gemacht und ausgetauscht. Im Gegenteil: den größten Teil unserer Erfahrungen machen wir in und mit unserer weiteren Umwelt. Je stärker wir mit dieser Umwelt vertraut sind und je wichtiger diese Umwelt für unsere eigenen Lebenszusammenhänge ist, desto stärker und intensiver werden auch die Erfahrungen sein, die wir in dieser Umwelt machen. Indigene Völker, deren Lebenserhalt von ihrer Umwelt in viel stärkerem Maße abhing als für uns, für die Wetter, Katastrophen, Veränderungen in Flora und Fauna essentiell wichtige Faktoren ihres Lebens bedeuteten und die daher ihre Sinne und ihre Aufmerksamkeit viel schärfer auf diese Veränderungen richteten, als es bei uns heute der Fall ist, haben daher auch viel mehr Geschichten über diese Zusammenhänge zu erzählen gewusst. Schöpfungsgeschichten dieser Völker erzählen nicht nur von der Schöpfung, sie vollziehen die Schöpfung, in dem sie ungeordnete Elemente bedeutungsvoll in Beziehung zueinander setzen. Daher ist das Erzählen von Geschichten allgemein und Mythen im Besonderen nicht nur Kommunikation mit anderen Menschen, sondern immer auch Kommunikation mit der Landschaft, den Tieren, den Pflanzen und den Dingen, die am gleichen Lebenszusammenhang teilhaben. Durch Geschichten bekommen diese Wesen ihre eigene Stimme und können sich Gehör verschaffen, indem sie auf besondere Weise an den Erfahrungen von denen die Geschichten handeln, teilhaben. Dazu brauchen sie nicht zu sprechen wie Menschen. Sie brauchen noch nicht einmal eigene Intentionen zu besitzen. Um an der Kommunikation teilzunehmen, reicht es völlig aus, dass sie an der Welt teilnehmen, dass sie Präsenz zeigen und Veränderungen in ihrer Umgebung verursachen. Sowohl Schöpfungsgeschichten, als auch die Dreamlines der Aborigines sind vor allem Geschichten, die über solche Präsenz berichten, die zeigen, was in der Welt ist, was auf welche Weise beachtet werden muss und wie die Dinge zusammenhängen. Wie sich Wege finden lassen und auf welche Weise man den Dingen begegnen sollte sind die praktischen Ableitungen die sich aus diesen Erzählungen ergeben.
Wissen, Erfahrungen, Möglichkeiten und Sinn, durch Geschichten mitgeteilt, sind daher nie objektiv im Sinne wissenschaftlichen Wissens. Sie sind aber auch nicht subjektiv, unserer reinen Phantasie entsprungen und beliebig auswechselbar, was mit Begriffen wie Mythos oder Märchen so oft nahegelegt wird. Sie sind vielmehr partizipativ. Menschen und Landschaften nehmen gemeinsam an ihnen Teil und bestimmen ihre eigenen jeweiligen Rollen und Bedeutungen durch sie. Die Geschichte von Kelho und den Menhiren gibt davon trauriges Zeugnis. Den Missionaren wäre es nie gelungen, die Menhire einfach beiseite zu schaffen oder zu zerstören ohne den Widerstand der Bevölkerung zu provozieren. Zu stark, zu eindrücklich ist die Präsenz der Menhire. Sie haben ebenso ihren festen Platz in der Landschaft der Bretagne wie in den Seelenlandschaften der Bretonen. Zu viele Geschichten, Erfahrungen, Emotionen, Erlebnisse sind mit ihnen verbunden, als das man sie einfach hätte aus diesen Landschaften hätte tilgen können. Doch gerade diese Präsenz und Kraft machte die Menhire auch anfällig für Geschichten der Missgunst, für Geschichten, die der Potenz des Ortes mit Unverständnis, Argwohn und Hass begegneten, die bis heute in der Fahrlässigkeit des Straßenbaus, und des Mülls ihren Ausdruck finden.
Wollen wir bedeutungsvolle Zugänge zur Landschaft finden, dann müssen wir Geschichten erzählen und Geschichten zuhören. Denn „Landschaften erzählen“ heißt beides: Die Landschaften erzählen uns und wir erzählen die Landschaften. Wie es zu einem wahren Gespräch gehört reden und zuhören zu können, so sollten wir uns auch der Präsenz von Landschaften und Orten öffnen, um Geschichten zu erzählen, in denen nicht bloß eine Stimme zu hören ist.
Bibliographie
- 1998: Kalevala.Küchenmeister, Claus und Wera (Übers.). Hinstorff, Rostock.
- Benjamin, Walter 1961: Der Erzähler. In: Unseld, Siegfried (Hrsg.): Illuminationen. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
- Haggarty, Ben 1996: Seek out the voice of the critic. Oracle, No. 2, Mary Medlicott (Hrsg.). Society for Storytelling, London.