Naturwissenschaft und Mythos (II)

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I.1.1.2. Teleologie, Evolution, Geschichte

Dass die Menschen ursprünglich in einer Angst lebten, die wir heute nicht mehr zu haben brauchen, da wir, nicht zuletzt durch die Naturwissenschaft, unsere Umwelt besser kontrollieren können, ist wiederum ein willkommenes Grundargument für Teleologien und Evolutionstheorien.

(Mit Evolutionstheorien bezeichne ich hier die geschichtlichen Auffassungen, die von einer steigenden Entwicklung ausgehen, wobei die jeweils höheren Entwicklungsstufen auch als die jeweils besseren gesehen werden. Teleologien sind so gesehen ein Spezialfall dieser Evolutionstheorien, bei der die Entwicklung irgendwann in einem höchsten Ziel abbricht. Nicht gemeint sind an dieser Stelle die Theorien, die eine unbewertete Entwicklung, aufgefasst als Veränderung über Zeit, proklamieren.)

Dem Konzept von Naturwissenschaft und Mythos als zwei konträren Bewusstseinsphären scheinen diese Auffassungen geradezu immanent und bilden somit ein zweites weit verbreitetes Motiv im Themenzusammenhang des Mythos.

Teleologische und evolutionistische Geschichtsauffassungen sind wahrscheinlich der stärkste Beweis dafür, dass es Menschen immer wieder schwer fällt, sich ihrer eigenen Situierung, ihres Kontextes und damit auch ihrer eigenen Kontingenz bewusst zu werden und sich dieser stellen zu können. Dies hat hauptsächlich mit der Singularität unserer jeweils eigenen Perspektive zu tun. Dass etwas zeitlich, also in der Geschichte, aufeinander folgt, führt zu dem Trugschluss, dass es zwingende kausale Gründe für genau diese Abfolge geben muss. Diese Vorstellung wird dadurch verstärkt, dass wir zur jeweiligen vergangenen Geschichte keine Alternative kennen, um somit aus einem Vergleich heraus auch die Möglichkeiten erkennen zu können, die sich letztlich nicht aktualisiert haben. Diese Auffassungen resultieren daher aus der Unmöglichkeit, sich einen anderen Geschichtsverlauf vorstellen zu können als den, der sich aktualisiert hat und den wir aus unserer jeweiligen Position eines immer schon vorläufig Abgeschlossenen zu sehen vermögen. So zwingt sich dem teleologisch denkenden Subjekt geradezu auf, sich als vorläufiges Resultat eines Geschichtsprozesses zu sehen, der, da er auf ein Ziel hinausläuft, somit im aktuellen Zustand seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat.

Teleologien und Evolutionstheorien spielen in der Mythosforschung eine bedeutende Rolle, bietet doch gerade der Mythos als nicht mehr verstandene Diskurs- und Weltverstehensform eine willkommene Projektionsfläche, vor deren Hintergrund das eigene Denken umso fortschrittlicher konzipiert werden kann. Platons Unterscheidung von Mythos und Logos, die ich im Abschnitt I.1.2. erläutern werde, lieferte gleichzeitig den theoretischen Rahmen dafür. Diese Unterscheidung machte es einfach, den eigenen philosophisch-naturwissenschaftlichen Diskurs als fortgeschritten, den mythischen als primitiv zu klassifizieren. Weitere kategoriale Unterscheidungen fallen dann wie von selbst in die einmal geöffneten Schubladen: beim Mythos Natur, Naturbefangenheit, kindliche Entwicklungsstufe, Aberglaube etc., beim Logos Kultur, Verstandesfreiheit, Reife, Wissen etc. Hatte es diese Art von Gedanken schon bei den Griechen in der Nachfolge Platons gegeben, so rissen sie seitdem nie vollständig ab. Ihre Höhepunkte fanden sie allerdings in Folge der Aufklärung, während der in besonderem Maße versucht wurde, sich von allem Religiösen und Emotionalen abzustoßen, sowie im 19. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund des europäischen Imperialismus dieser Zeit entwickelte sich ein ausgeprägtes Interesse an fremden Kulturen, allerdings nicht, um diese besser zu verstehen oder von ihnen zu lernen. Heinz Reinwald schreibt dazu:

„Waren die zeitgenössischen europäischen Gesellschaften in der langen Phase des Umbruchs von der spätfeudalen zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung noch bemüht, in der Symbolwelt des Guten Wilden einen positiven Anhaltspunkt für die Selbstbestimmung und die Kritik am absolutistischen Herrschaftssystem zu sehen, so verbrauchte sich das Bild vom Edlen Wilden mit der Konsolidierung und Emanzipierung des eigenen, aufgeklärten Selbstverständnisses zusehends mehr zum Primitiven und unzivilisierten Barbaren.“ (Reinwald, 1991, S.34.)

Reinwald bestätigt auch, dass gerade Darwins Evolutionstheorie einen weiteren Anhaltspunkt dafür bot, die verschiedenen Gesellschaftsformen hierarchisch in ein geschlossenes System zu gliedern. Die ritualistische Mythosdeutung versuchte z.B. den Reifegrad von Gesellschaften über ihr Handeln zu klassifizieren. Der Ritus stellte dabei die unterste Stufe der Leiter dar: „Entsprechend konnte das narrativ und rituell vermittelte Wirklichkeitsverständnis schriftloser Kulturen in der Gegenüberstellung zur eigenen Kultur als Kindheits- und Frühphase der europäischen Reifung betrachtet werden. Was nicht philosophisch-wissenschaftlicher Diskurs war, war Mythos“. (Reinwald, 1991, S.35f) Christoph Jamme beschreibt diesen Prozess ebenfalls vor dem Hintergrund einer sich entwickelnden Ethnologie: „Grundsätzlich aber dominierte bei der Einstellung der ersten Ethnologen des 19. Jahrhunderts zum Fremden ein ungebrochener Ethnozentrismus: man ‚entdeckte’ in Europa fremde Völker und ihre Kulturen als Verkehrung der eigenen (…)“. (Jamme, 1991a, S.75f) Aber auch die Entdeckung der Prähistorie führte zu einer weiteren Beschäftigung mit Mythen. Durch Funde von Höhlenmalereien und Ausgrabungen frühgriechischer Städte entstand der Eindruck, dass jede Kultur notwendigerweise ein mythisches Zeitalter durchlaufen müsse, um sich zur Rationalität zu entwickeln. Dabei wurden, so Jamme, gravierende Unterschiede in den Sagenmotiven verschiedener Kulturkreise übergangen: „Die Bezeichnung ‚Mythos’ wurde damit auf die frühesten Überlieferungen als ‚primitiv’ geltender Völker ausgedehnt“. (Jamme, 1991a, S.77)

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