Naturwissenschaft und Mythos (IV)

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Naturwissenschaft und Mythos (I) – (Hier findet sich auch der gesamte Text als pdf)

Naturwissenschaft und Mythos (II)

Naturwissenschaft und Mythos (III)

I.2. Hübner: Die Wahrheit des Mythos
Hübners Werk Die Wahrheit des Mythos steht inhaltlich zwischen Mythos und Naturwissenschaft und nimmt darum auch in dieser Arbeit diese Zwischenposition ein. Hübner diskutiert vor allem formale Ähnlichkeiten zwischen Mythos und Naturwissenschaft und die Frage nach ihrer jeweiligen Wahrheit. Er arbeitet in seinem Buch mit dem Begriff des Mythos im Singular, wie er hier schon kritisiert wurde. Dies sollte während dieses Kapitels bewusst bleiben. Chronologisch wäre Hübner sowohl nach Kuhn als auch nach Horkheimer und Adorno einzuordnen, die ich in den folgenden Kapiteln behandeln werde.

Hübner folgt Lévi-Strauss in der Annahme, dass schon der Mythos Denken ist, und eine strukturelle Ähnlichkeit zum wissenschaftlichem Denken besitzt. Nur die Gegenstände, auf die sich Mythos und Naturwissenschaft, aber auch Kunst und Technik richten, sind nach Hübner unterschiedlich. Ihm geht es vor allem um die Frage nach der Wahrheit des Mythos, dem man allgemein vorwirft, subjektivistisch, irrational und dogmatisch zu sein. Wenn mythisches Denken tatsächlich gleich-berechtigt zu anderen Denkformen ist, so Hübners Überlegung, dann muss man auch die Frage nach der Wahrheit des Mythos, sowie dessen Beziehung zur Wirklichkeit stellen (Hübner, 1985, S.239). Infolge dessen sucht Hübner nach vergleichbaren Strukturen von Naturwissenschaft und Mythos. Dabei verfolgt er zwei Gesichtspunkte, die eng miteinander verwoben sind. Der eine versucht, die unterschiedlichen Subjekt-Objekt Beziehungen herauszuarbeiten, die jeweils Mythos und Naturwissenschaft, insbesondere der Physik zu eigen sind, denn, so Jamme über Hübner: „Mythos und Logos werden als zwei alterierende Formen der Wirklichkeitsbewältigung gesehen, als zwei unterschiedliche Subjekt-Objekt Beziehungen“. (Jamme, 1991b, S.122) Unter dem anderen Gesichtspunkt legt Hübner die ontologischen Voraussetzungen offen, die, im Laufe der Geschichte sich wandelnd, naturwissenschaftlichen Anschauungen zugrunde lagen. Seine These lautet hier, dass die Naturwissenschaft ebenso wie der Mythos auf ontologischen Voraussetzungen beruht, die weder auf empirischer Wahrheit noch auf theoretischer Begründbarkeit fußen. Daher kann ihm zufolge auch der Glaube an die Wissenschaft in einen Dogmatismus führen. (Jamme, 1991b, S.122ff)

Wenn sich Formen der Wirklichkeitsbewältigung als herausgehobene Funktionen durch unterschiedliche Subjekt-Objekt Beziehungen in Mythos und Naturwissenschaft beschreiben lassen, ist die Erörterung dieser Beziehungen von zentraler Bedeutung innerhalb dieser Arbeit. Ich möchte daher Hübners Problematisierung dieser Subjekt-Objekt Beziehungen explizieren. Die Subjekt-Objekt Beziehung des Mythos versucht Hübner über die Naturpoetik Hölderlins anschaulich zu machen, die seiner Meinung nach in dieser Frage eine große Nähe zum Mythos besitzt. Hölderlin begriff Hübner zufolge dichterische Erfahrung als mythische, die in ihrer Radikalität alles bloß Allegorische ablehnt: „Er (Hölderlin – JR) wollte vielmehr das Tautegorische, also eben jenes Dichterisch-Mythische, das sich gerade nicht als Allegorie, als bloßes Gleichnis versteht und damit auch nicht, wie alle Gleichnisse, auf eine andere Wirklichkeit verweist, sondern das ganz und gar seine eigene, eben dichterische Wirklichkeit hat und darin vollständig ernst genommen sein will“. (Hübner, 1985, S.21) Dieser Ganzheitsanspruch rührt aus einem Gestaltdenken, das nicht versucht, die Erfahrung zu zerlegen, sondern sie als Zusammenhängendes zu sehen und damit einen weiteren Erfahrungshorizont zu öffnen, indem die Gestalt als mehr als die Summe ihrer Teile wahrgenommen wird. (Hübner, 1985, S.23) Innerhalb dieses Gestaltkonzepts, so Hübner, werde nicht versucht, in Subjekt und Objekt zu teilen, sondern deren gegenseitige Durchdringung zu sehen: „In traditioneller philosophischer Ausdrucksweise könnte man sagen, es handele sich hier um eine wechselseitige Durchdringung von Subjekt – der die Natur erfahrende Mensch – und Objekt – eben diese Natur. Das Objekt, die Natur, ist ganz von der menschlichen Sicht, von ‚Kunst’, wie Hölderlin sagen würde, durchsetzt, wie umgekehrt das Subjekt gerade deswegen vollkommen objektiviert ist“. (Hübner, 1985, S.23 kursiv Hübner) Subjekt und Objekt sind dieser Auffassung zufolge nur noch Teile eines Gemeinsamen, das die eigentliche Wirklichkeit bezeichnet. Sie sind zwei Seiten einer Münze – der Gestalt. Nach Hübner tragen Gegenstände bei Hölderlin damit auch personale Züge: „Sofern Naturerscheinungen wie Äußerungen von etwas Personalem wirken, werden diese Äußerungen als Sprache aufgefasst, aber eben nicht als Sprache von Menschen, sondern als Sprache anderer Art, nämlich als Zeichen, also durch Numina“. (Hübner, 1985, S.24) Diese kann nach Hölderlin der Mensch nur in der Kunst begreifen. Hübner erläutert, dass numinose Eigennamen wiederum in Verbindung zu entsprechenden Archái stehen: „Es ist immer wieder dieselbe Geburt des Meeres aus der Erde, der Gaia, welche die Quellen aus dem Boden entspringen und zum Meer fließen lässt, es ist immer wieder dieselbe Nacht, die den Morgen und den Tag gebiert; es ist immer wieder derselbe Helios, der seine Umfahrt auf dem Himmel und durch den Okeanos macht; (…)“. (Hübner, 1985, S.135) Eine Arché ist für Hübner also ein singuläres Ereignis, das sich beständig wiederholt. Die numinosen Eigennamen (göttlicher Wesen) stellen dabei die Ursprungsgeschichten dieser Archái dar.(Hübner, 1985, S.140)

Hübner sieht genau im Begreifen des Numinosen den dem Mythos zugrunde liegenden Erfahrungsmodus, der dem der Wissenschaft entgegensteht und von dieser als rein subjektiver und damit als nicht zu objektiver Erkenntnis fähiger gewertet wird. (Hübner, 1985, S.26 u. 28)

„Es gehört zu den bisher unausrottbaren Vorurteilen gegenüber dem Mythischen, dass es sich dabei um eine Art Glauben an etwas Transzendentes, zumindest der Wahrnehmung und Erfahrung Unzugängliches gehandelt habe. In Wahrheit beruht es jedoch ganz im Gegenteil darauf, dass die Wirklichkeit dem Menschen ursprünglich mythisch entgegentrat. Er fand die Archái und ihre Gruppierungen in einer Mannigfaltigkeit einzelner Erfahrungen, durch eine Fülle von Ereignissen und Erscheinungen ebenso bestätigt oder widerlegt, wie der Wissenschaftler Naturgesetze oder geschichtliche Regeln. Auch dem mythischen Menschen dienten dazu (…) Basissätze. (Als Basissätze definiert Hübner Aussagen über einzelne Phänomene oder Ereignisse, die in einem bestimmten Raum und zu einer bestimmten Zeit stattfinden. Hübner, 1985, S.243) Der Unterschied ist nur dieser, dass er sich dabei von vornherein gleichsam in einer anderen Dimension, in einer anderen Vorstellungswelt bewegte und damit auch die von ihm verwandten Basissätze auf einer ganz anderen Deutung und konzeptionellen Erfassung der Wirklichkeit beruhten, als es in der Wissenschaft der Fall ist.“ (Hübner, 1985, S.260)

Dass die Wissenschaft heute so über den numinosen Erkenntnismodus urteilt, rührt nach Hübner aus der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, die, vor allem innerhalb der Physik, unseren heutigen Objektbegriff geprägt hat. Ich habe anfangs anhand Platons Unterscheidung zwischen Mythos und Logos gezeigt, wie schon bei den Griechen die Welt in zwei Wirklichkeitsebenen geteilt wurde. Nach Platons Auffassung waren es die Ideen, die allein als wahr gelten dürfen, die aber nicht in der Welt direkt zu erfahren sind, wo sie nur aus Abbildern durch die Abstraktion des Denkens erschlossen werden können. Hübner führt Denker in dieser Tradition an, die die Spaltung der Welt in eine objektive und eine subjektive Sphäre weiter vollzogen. Gleichzeitig zeigt er, dass diesen Konzeptionen immer spekulative Ontologien zugrunde liegen, niemals aber aus reiner Erfahrung oder einer letzten Begründung heraus zu rechtfertigen sind.