Naturwissenschaft und Mythos (IV)

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So wird für Hübner der Objektbegriff, wie wir ihn heute kennen, zum ersten Mal bei Descartes vollständig offensichtlich. Bei diesem sollte die Vernunft und nicht etwa die Erfahrung darüber entscheiden, wodurch ein Naturobjekt bestimmt ist, und da die Natur ebenso wie die Mathematik vernünftig aufgebaut ist, ist alles andere, was sich nicht durch reine Vernunft bestimmen lässt, subjektiv und gehört damit in den Bereich der Phantasie und Täuschung. In der res cogitans und der res extensa ist die Trennung von Subjekt und Objekt somit deutlich angelegt. Hübner sieht darin einen wichtigen Ursprung für die Entseelung der Natur. Gleichzeitig zeigt Hübner, dass Descartes` Ontologie auf drei Voraussetzungen beruhte: „Erstens: Die Natur ist vernünftig konstruiert, weil sie der uns gnädige, also auch unserer Erkenntnisfähigkeit zugeneigte Gott geschaffen hat. Zweitens: Die Vernunft, die der Natur zugrunde liegt, ist zunächst und grundlegend diejenige der Mathematik. Drittens: Die Gesamtsumme der Bewegung im All bleibt immer dieselbe, weil Gottes Ratschluss, welcher der Schöpfung vorausging, unveränderlich ist“. (Hübner, 1985, S.30) Die erste Voraussetzung ist Hübner zufolge nur aus der geistigen Lage der Renaissance zu verstehen. Ebenso die dritte. Die zweite hat sich gerade in der Physik nicht bestätigt. Ihnen allen drei ist gemeinsam, dass sie ontologische Setzungen sind, die weder verifiziert noch falsifiziert werden können. (Hübner, 1985, S.32f)

Dass kein wissenschaftliches System ohne diese nicht weiter zu hinterfragenden und zu überprüfenden ontologischen Voraussetzungen auskommt, zeigt Hübner im Folgenden anhand wichtiger Naturwissenschaftler, die sich in besonderer Weise auch mit den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ihrer Wissenschaften beschäftigt haben.

So ist für Newton das Objekt ein euklidisch Ausgedehntes gewesen, das, wenn ungestört, Trägheitsbewegungen ausführt. (Hübner, 1985, S.32) Zwar hat sich damit Newtons Bewegungslehre gegenüber Descartes gewandelt, doch Newtons Konzeption des Körpers als träge Masse, auf die Kräfte einwirken, hat den neuzeitlichen Objektbegriff weiter gefestigt. So war Newtons Eimerversuch für ihn der empirische Nachweis, „dass man zwischen der Bewegung eines Körpers zum absoluten Raum und einer Bewegung eines Körpers nur relativ zu anderen Körpern unterscheiden müsse“. (Hübner, 1985, S.31) Hübner beschreibt dieses Experiment folgendermaßen:

„Er füllte den Eimer mit Wasser und versetzte ihn in eine schnelle Drehbewegung. Zuerst, als das Wasser sich nur relativ zum Eimer bewegte, also nach Meinung Newtons noch ruhte, war seine Oberfläche eben. Später, als es allmählich die Bewegung des Eimers mitzumachen begann, wurden Fliehkräfte in ihm wirksam, und es begann an den Wänden hochzusteigen. Daraus schloß Newton, dass das Wasser nicht mehr eine bloße Relativbewegung ausübte, sondern nunmehr mit dem Eimer eine solche zum absoluten Raum.“ (Hübner, 1985, S.31)

Doch diese Interpretation fußt Hübner zufolge ebenfalls wieder auf ontologischen Setzungen, nämlich, dass es einen absoluten Raum und eine absolute Zeit gibt und dass der Unterschied zwischen relativer und absoluter Bewegung empirisch nachweisbar ist. (Hübner, 1985, S.32) Dass diese Voraussetzungen nicht empirisch zwingend sind, zeigte später Ernst Mach anhand einfacher Umdeutungen unter neuen Voraussetzungen: Wäre die Wand des Eimers so dick, dass sie selbst Gravitationskräfte ausübt, so wäre die Wasseroberfläche auch bei geringer oder keiner Drehung des Eimers gekrümmt. Man könnte dann nicht mehr entscheiden, was sich dreht und was nicht. Weiterhin wäre die Krümmung der Wasseroberfläche bei schneller Drehung auch so zu deuten, dass der Eimer mit dem Wasser unbeweglich ist und der restliche Raum sich dreht. In beiden Fällen können wir absolute von relativer Bewegung nicht mehr unterscheiden. (Hübner, 1985, S.32) Daher folgert Hübner: „Nicht das Experiment entscheidet also hier in Wahrheit, sondern die Art und Weise, wie man die Prämissen a priori begründet“. (Hübner, 1985, S.33)

Auch Einstein ist Hübner zufolge von ontologischen Überzeugungen geleitet worden. Vor der Frage, welche der beiden sich widersprechenden Theorien – die Newtonsche Gleichberechtigung der Trägheitssysteme oder die Maxwellsche Theorie des Lichts – die Wirklichkeit besser beschreibt, war Einstein davon überzeugt, dass in der Physik eine Harmonie zu finden sein muss: zwei bewährte Theorien können sich nicht widersprechen oder die eine einfach aufgegeben werden. Er hielt seine spezielle Relativitätstheorie vor allem deswegen für wahr, weil er glaubte, dass diese die beiden Vorläufertheorien harmonisch vereinigen kann. (Hübner, 1985, S.35) Die klassische Raum-Zeit-Vorstellung konnte dagegen sehr wohl von Einstein geopfert werden, da sie ihm zufolge kein Gegenstand der Erfahrung ist und deswegen Fiktion sein muss. (Hübner, 1985, S.35) Hier zeigt sich für Hübner deutlich, dass auch Einstein die cartesianische Trennung eines äußeren physikalischen Bereichs der Objekte von einem subjektiven Bereich aufrecht erhielt: Physikalische Theorien müssen harmonisch, mathematisch, vernünftig sein, dagegen ist die Vorstellung einer absoluten Raumzeit nicht objektivierbar und damit kein beizubehaltendes Element der speziellen Relativitätstheorie. (Hübner, 1985, S.35f) Dass Einsteins theoretische Voraussetzungen nicht empirisch oder logisch zu beweisen sind, war diesem selbst bewusst. So zitiert Hübner Einstein mit den Aussagen, dass die Axiome der theoretischen Physik nicht aus der Erfahrung erschlossen werden können, sondern frei erfunden werden müssen und dass, da die Sinne das Reale nicht eindeutig zu erfassen vermögen, dies nur spekulativ geschehen kann. (Hübner, 1985, S.39) Dabei hielt es Einstein jedoch durchaus für möglich, dass es beliebig viele, an sich gleichberechtigte Systeme der Theoretischen Physik geben könnte. (Hübner, 1985, S.39) Diese Vorstellung, die auf den ersten Blick einem Glauben an eine physikalisch-harmonische Weltsicht zu widersprechen scheint, orientierte sich an der Machschen Philosophie eines Vor- und Übergeordnetseins. (Hübner, 1985, S.43) Hübner verdeutlicht dies durch ein Gleichnis mit einem Teppich: Die Fäden des Teppichs sind nach bestimmten Regeln gewebt. Versuchen nun verschiedene Betrachter mittels verschiedener Koordinatensysteme den Teppich zu ergründen, so ergeben sich verschiedene Beschreibungen des Teppichs, die aber alle valide sind. Die Fäden des Teppichs bleiben jedoch immer dieselben, auch wenn niemand sie an sich, d.h. ohne ein Koordinatensystem beschreiben kann. (Hübner, 1985, S.43f) Dieses Beispiel verdeutlicht die Möglichkeit unterschiedlicher Erkenntnispositionen bei einer gleichen zugrunde liegenden Realität. Der Vollständigkeit halber sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass auch die Annahme, die Fäden des Teppichs blieben dieselben, eine nicht zu überprüfende ontologische Annahme ist. Im zweiten Teil der Arbeit werde ich hierauf näher eingehen.