Dabei ist Hübner die Problematik des Wandels des Mythos durchaus bewusst. So werden ihm zufolge, wenn neue Erfahrungen gemacht werden, diese durch neue numinose Wesen in den Mythos integriert. Die Wirklichkeit selbst kann sich dadurch im Mythos ändern (Hübner, 1985, S.267), was, wie ich mit Kuhn zeigen werde, auch für die Naturwissenschaft gilt. Der Mythos ist für Hübner daher keine Weltanschauung, die durch „konservative Beharrlichkeit, Nichtüberprüfbarkeit, ja Dogmatismus“ gekennzeichnet ist:

„Dabei vergisst man, dass es im Zeitalter des Mythos ungeheuere Umwälzungen gegeben hat, die sich mit den technischen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts durchaus vergleichen lassen und ohne beständiges Ringen mit der Erfahrung, also jenem umfassenden Zusammenhang von Entwurf, Versuch, Prüfung, Enttäuschung und Bestätigung, den man sonst nur in der Wissenschaft zu finden meint, gar nicht möglich gewesen wäre. Ich erinnere nur an die Domestizierung von Tieren und die Entwicklung des Ackerbaues im Neolithikum sowie an die Übergänge von der Stein- zur Bronzezeit und von dieser wieder zur Eisenzeit. Und doch ist dies alles ohne Zweifel ausschließlich auf der Grundlage mythischer Denk- und Erfahrungssysteme erfolgt.“ (Hübner, 1985, S.262f.)

Diese Stelle ist ein Schlüssel zu den Paradoxen, mit denen man es in diesem Themenzusammenhang die ganze Zeit zu tun hat. Hübner ist sich durchaus eines Wandels bewusst, der mit den Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts vergleichbar ist. Trotzdem ist dies ihm zufolge alles im mythischen Bewusstsein geschehen. Anscheinend entwirft Hübner hier ein mythisches Fortschritts- und Entwicklungsmodell analog zu dem des wissenschaftlichen Fortschritts. Ebenso wie dort, so die unterschwellige These, ist die ontologische Grundeinstellung für Jahrtausende gleich geblieben – nämlich nach Hübner mythisch-numinos. Allerdings hat es innerhalb dieser Grundeinstellung Fortschritte und Revolutionen gegeben. Dann hat die Naturwissenschaft den Mythos abgelöst (spätestens mit Descartes, vielleicht aber schon bei den Griechen) und hat die mythologische Grundeinstellung gleichsam wie durch die Betätigung eines Schalters vertauscht mit einer rational-naturwissenschaftlichen, die auf der Trennung von Subjekt und Objekt basiert. Seitdem geht der Fortschritt wieder kontinuierlich weiter, nur eben innerhalb der naturwissenschaftlichen Ontologie. Hübner beschreibt unter dem Begriff historische Relationalität: „Wie in der Wissenschaft, so findet im Mythos empirischer Fortschritt entweder im Rahmen der genannten Voraussetzungen statt, so dass aus diesen immer mehr abgeleitet und sie auf immer weitere Gebiete angewandt werden, oder dadurch, dass neue reine Erfahrungen neue Voraussetzungen dieser Art auslösen (wenn auch nicht unmittelbar begründen)“. (Hübner, 1985, S.269) Das wäre ja noch ein überzeugend einfaches Bild, wenn nicht Hübner selbst zeigte, wie innerhalb der Naturwissenschaft die Ontologien sich variierten und zwar in einem Maße, das Kuhn veranlasste, von Revolutionen zu sprechen. (Kuhn veröffentlichte sein Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1967, Hübner sein Buch Wahrheit des Mythos 1985. Hübners Ausführungen zum Wandel der Ontologien der Naturwissenschaft gehen, wenn auch inhaltlich gemäßigt, eindeutig in ihrer wissenschaftshistorischen Betrachtungsweise auf Kuhn zurück, auch wenn dieser von jenem nicht an einer Stelle zitiert oder im Namensregister erwähnt wird.) Gleichzeitig beteuert Hübner, dass praktische Gründe für den Vorrang der Physik sprechen. (Hübner, 1985, S.129) Dadurch wird die klare Vorstellung von dem, was Hübner eigentlich in Bezug auf den Fortschritt, die Integration neuer Erfahrungen und den Wandel der Ontologien sagen möchte, zu einem Verwirrspiel. Denn eigentlich ist alles Rationalität – mit der Einschränkung, dass die Naturwissenschaft praktischer sei. Gleichermaßen findet aber Fortschritt im Mythos statt, sowie ontologische Grundsatzdiskussionen in der Naturwissenschaft. Gibt es bei Hübner etwa zwei Ebenen? Zum Einen die der Subjekt-Objekt Beziehung, die die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Mythos ausmacht und zum Anderen die Ebene ontologischer Setzungen innerhalb dieser beiden Bewusstseinszustände? Aber hat Bohrs Konzept der Komplementarität nicht etwa eine große Beziehung zu Hölderlins Kunstver-ständnis, das wiederum Hübner zufolge dicht am Mythos liegt? Und warum sollte es keine Mythen geben, die nicht mit der Unterscheidung Subjekt-Objekt arbeiten, wie es im „naturwissenschaftlichen Bewusstsein“ geschieht? Im zweiten Teil werde ich dagegen zeigen, dass sich Naturwissenschaft beschreiben lässt, die gar nicht auf Subjekte und Objekte angewiesen ist. Warum sollte es andererseits nicht auch ontologische Revolutionen respektive Paradigmenwechsel, wie Kuhn sie für die Wissenschaft beschreibt, schon vor den Griechen gegeben haben? Woran machen wir eigentlich den Unterschied fest zwischen einem (aus unserer Sicht) mythisch denkenden Menschen, der die Axt, das Rad, Spinnen, Nähen, Weben, Ackerbau und Viehzucht, Hausbau und Bootsbau, Astronomie, Bewässerungssysteme und Forstwirtschaft, Segeln und Reiten, Jagen und Brot backen, Schmieden und Bier brauen, Töpfern und Malen, Musizieren und Tanzen sowie Heilkräuter verarbeiten, Stoffe weben und zu Kleidern schneidern und vieles mehr „erfunden“ hat, und einem Naturwissenschaftler, der die Quantenphysik „erfindet“, dies aber unter dem Hinweis macht, er glaube an den Gott Spinozas, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbare? (Einstein bei Hübner, Hübner, 1985, S.36) Wie ist es zu erklären, dass es in unserer aufgeklärten Gesellschaft unerschütterliche Glaubensformen gibt, angefangen bei den offensichtlich religiösen über die wirtschaftlichen (Wachstum, Wohlstand), wissenschaftlichen (Fortschrittt, Entwicklung), politischen (Demokratie, Menschenrechte, Freiheit), bis hin zu den Mythen, die uns die Medienindustrie anträgt? Können diese großen Begriffe unserer Gesellschaft, ohne sie inhaltlich in Frage stellen zu wollen, nicht ebenso als numinose Archái verstanden werden? Muss uns nicht der Glaube an einen Bewusstseinsbruch zwischen Mythos und Naturwissenschaft zunehmend fragwürdig erscheinen, zumindest solange diesem Bruch eine größere Bedeutung zugemessen wird als den Brüchen innerhalb dieser zwei angenommenen Sphären? Halten wir noch einmal fest: sowohl Mythen als auch Naturwissenschaften liegen apriorische nicht weiter zu begründende ontologische Annahmen zugrunde, die in persönlichen, politischen, sozialen, religiösen oder anders gearteten Überzeugungen wurzeln. Sowohl innerhalb mythischer Zeitalter als auch in der naturwissenschaftlichen Neuzeit hat es unzählige sich ablösender, aber auch koexistierender Paradigmen gegeben. In beiden „Bewusstseinsepochen“ gab es wichtige Erfindungen und technische Neuerungen mit praktischem Nutzen. Damit sollen quantitative und qualitative Unterschiede zwischen der Vielzahl der Paradigmen und den darauf basierenden praktischen Lebensformen keinesfalls unter den Tisch gekehrt werden. Aber rechtfertigen diese Unterschiede eine so kategoriale Trennung, wie wir sie zwischen Naturwissenschaft und Mythos vornehmen? Kann es nicht vielmehr sein, dass es einerseits große Gemeinsamkeiten gibt (wie z.B. Weltverstehen durch Verarbeitung von Erfahrung und deren Kommunikation zu ermöglichen) und andererseits die ganz offensichtlich bestehenden Unterschiede nicht zwischen Mythos und Naturwissenschaft als zwei sich widersprechenden Bewusstseinssystemen gesucht werden sollten, sondern zum Einen in der Vielzahl der möglichen ontologischen Paradigmen von Mythen und Naturwissenschaften und zum Anderen in den jeweiligen komplexen Situierungen, in denen z.B. technische Neuerungen entdeckt, soziale Formen erprobt, politische Systeme etabliert werden?

Wenn also die Art der Funktionen über (mythische und naturwissenschaftliche) Weltbezüge hinweg gleiche Themen wie Erkenntnisverarbeitung, Wissensgenerierung, Handlungsvorgaben, Identifizierungen etc variieren, sollten wir dann nicht nach der Weise fragen, wie diese Funktionen innerhalb bestimmter Weltbezüge umgesetzt werden und welche Risiken damit möglicherweise entstehen? Diesen Gedanken werde ich im zweiten Teil wieder aufgreifen, nachdem ich meinerseits ontologische Vorschläge vorgestellt habe, die mir im Hinblick auf diese Fragen vielversprechend erscheinen. Vorerst möchte ich allerdings einige Aspekte der Naturwissenschaft diskutieren.