Naturwissenschaft und Mythos (I) – (Hier findet sich auch der gesamte Text als pdf)
Naturwissenschaft und Mythos (II)
Naturwissenschaft und Mythos (III)
Naturwissenschaft und Mythos (IV)
I.3. Naturwissenschaft
Naturwissenschaft bringt Erkenntnis. Sie ist ein Unterfangen, das davon geleitet ist, die Rätsel der Natur aufzudecken und Techniken zu erfinden, die es dem Menschen ermöglichen, in dieser Welt gut zu leben, wobei sich gut mit sicher, gesund und im materiellen Wohlstand übersetzen ließe. Das ist eine populäre Version, wie Naturwissenschaft alltäglich charakterisiert wird. Wenn wir die Frage nach den Funktionen von Naturwissenschaft bemühen, antworten wir also: Erkenntnisgewinn, Generierung von Wissen, zur Verfügung stellen von Techniken zur Naturbeherrschung. Doch wollen das die Mythen nicht auch?
Ich habe im ersten Kapitel gezeigt, dass in Mythen Erkenntnisgewinn als kollektiver und reziproker Verstehensprozess organisiert ist. Und generieren Mythen nicht auch Wissen? Ich habe ebenfalls gezeigt, dass Erzählungen generell – und somit auch Mythen – zumindest Wissen tradieren. Innerhalb der Aufgaben der professionellen Erzähler steht aber auch immer das Anpassen der Mythen an die Erfahrungen der Hörer und das Übersetzen von neuen, individuellen und kollektiven Erfahrungen in die Begriffssprache der schon bekannten Mythen. Somit werden auch in den Mythen neue Erfahrungen in neues Wissen übersetzt. Und geben Mythen Techniken an die Hand? Die Kalevala spricht nicht nur über die Entstehung des Eisens, sondern auch über die Grundlagen der Schmiedekunst, die Ilias kann getrost als Handbuch der Kriegsführung aufgefasst werden, die Gesetze im dritten Buch Mose lesen sich teilweise wie moderne Hygienevorschriften. Bei Hübner habe ich deshalb konstatiert, dass, wenn die Funktionen von Naturwissenschaft und Mythen zumindest vergleichbar sind, der Unterschied zwischen Mythen und Naturwissenschaft nur darin liegen kann, wie diese Funktionen jeweils umgesetzt werden. Und wie steht es mit den Risiken? Die Naturwissenschaft muss sich gegen die Vorwürfe verteidigen, einer Machbarkeitslogik zu folgen, die ethische Gesichtspunkte vernachlässige. Ihr Fokus, Techniken zur Naturbeherrschung zu entwickeln, mache sie blind für die Nebeneffekte, die diese Techniken sozial und ökologisch haben können. Die Vernunft, die die treibende Kraft der Naturwissenschaft sei, ist diesen Vorwürfen zufolge eine instrumentelle, auf Zwecke gerichtete. Die Wahl der Mittel, um diese Zwecke zu erreichen, orientiere sich nur an diesen. Eine moralische Abwägung der Zwecke jedoch sei nicht Gegenstand der Naturwissenschaft. Die Kritik am Mythos formuliert sich anders: Er lasse nichts zu, was nicht in seinen totalen Deutungszusammenhang falle. Habermas schreibt: „Je tiefer man in das Netzwerk einer mythischen Weltdeutung eindringt, um so stärker tritt die totalisierende Kraft des wilden Denkens hervor“. (Habermas, 1981, S.76) Der Mythos ist nach diesen pauschalen Vorwürfen vor allem ein System zur Herrschaft über Menschen, indem diesen Macht über Natur vorgegaukelt werde, die faktisch nicht vorhanden ist. So sieht Reinwald das Ziel seines Buches Mythos und Methode darin, Wissenschaft und Mythos vor dem Hintergrund ihrer „gemeinsamen Bestrebung nach An-Eignung von Welt, Herrschaft und Technologie“ zu betrachten. (Reinwald, 1991, S.17) Hatten Horkheimer und Adorno schon in ihrer Dialektik der Aufklärung gezeigt, dass sowohl im Mythos als auch in der Aufklärung (als Geisteshaltung der Naturwissenschaften) die durch die instrumentelle Vernunft beförderte Herrschaft über die innere und äußere Natur angelegt ist, so sieht Reinwald die wissenschaftliche Rationalität als Instrument der Herrschaft, die durch die Logik der Widerspruchsfreiheit (tertium non datur) das Mythische aus dem aufgeklärten Bewusstsein verdrängt hat. (Reinwald, 1991, S.20 u. 24) Dieses Mythische drückt sich nach Reinwald nicht nur in der Möglichkeit des Widerspruchs aus, sondern gerade auch in der Geschichtlichkeit, die die Wissenschaft ausgrenzt (Reinwald, 1991, S.16), um so ihrem Anspruch an objektive Wahrheit, die als objektive eben nicht geschichtlich sein dürfe, gerecht zu werden.
Ein Unterschied zwischen Mythen und Naturwissenschaft lässt sich anscheinend nicht so sehr anhand der Risiken und Funktionen finden, sondern darin, wie diese sich intern ausbilden und umgesetzt werden. Auf den Mythos bezogen habe ich schon konstatiert, dass der Hauptvorwurf der Totalität, wenn berechtigt, gegen eine monodirektionale Dominanz der internen Reziprozität besteht, die aber immer schon eine Instrumentalisierung ist, bzw., wenn unberechtigt, aus der Vorstellung resultiert, dass der Mythos zwangsläufig immer eine solche Machtschieflage besitzt (z.B. in der Priesterbetrugsthese). Doch dies entspricht nicht den herkömmlichen Annahmen. Diese sehen vielmehr verschiedene Rationalitätsformen als entscheidend dafür, welche Funktionen und Risiken Mythos und Naturwissenschaft mit sich bringen – die Stichwörter instrumentelle Vernunft (Horkheimer / Adorno) und wissenschaftliche Rationalität (Reinwald) sind schon gefallen. Bei Hübner gibt es verschiedene Formen intersubjektiver Rationalität, die Wissenschaft und Mythos zugrunde liegen. Habermas spricht von Rationalitätsstrukturen verschiedener Weltbilder. Doch was hebt die wissenschaftliche Rationalität eigentlich qualitativ von einer mythischen Rationalität ab? Wie kommt es z.B., dass die Naturwissenschaft für sich in Anspruch nimmt Fortschritte zu machen, Mythen aber nicht? Und welchen Einfluss hat die Geschichtlichkeit auf das Selbstbild der Naturwissenschaft?