Naturwissenschaft und Mythos (V)

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Doch was ist Fortschritt dann? Wenn überhaupt, so Kuhn, kann es Fortschritt nur innerhalb der normalen Wissenschaft geben, also unter den Prämissen eines Paradigmas. Unter Umständen ist Fortschritt für ihn sogar nur semantisch zu sehen: Paradigmen geben selbst die Kriterien vor, nach denen ihr Fortschritt gemessen und erreicht wird. So galt viele Jahrhunderte vor allem die Malerei als kumulative, fortschreitende Praxis, denn sie definierte diesen Fortschritt durch den Grad der Annäherung der Darstellung an die Natur. (Kuhn, 1967, S.172)

Was bedeutet diese Analyse Kuhns bis hierhin? Offensichtlich vor allem eins: wenn die naturwissenschaftliche Praxis an Paradigmen orientiert ist und keine fortschreitende, kumulative Entwicklung aufzeigt, dann können wir ebenso wenig von der Naturwissenschaft sprechen wie wir von dem Mythos sprechen können. Analog zu meinen Definitionen über Mythen lässt sich daher konstatieren: Die Naturwissenschaft im Singular kann nur als Konzeption einer dualistischen abendländischen Philosophie verstanden werden, um eine Abgrenzung gegenüber Begriffen wie dem des Mythos (oder der Kunst, der Religion etc.) zu ermöglichen. Der Begriff der Naturwissenschaft ist insofern von Interesse, als er die Anstrengung unternimmt, eine Reihe von Praktiken auf Grundlage unterschiedlicher Paradigmen unter einem Oberbegriff zu subsumieren und sie in einem Zirkelschluss als objektiv rationale Praxis gegenüber all jenen Praktiken und Paradigmen zu verteidigen, die nicht unter seine Schutzherrschaft fallen. Statt dessen möchte ich im folgenden von Naturwissenschaften im Plural sprechen. Als solche können wir dann diejenigen Praktiken bezeichnen, die sich analog zu Platons Begriff des Logos konstituiert haben. Ich habe ausgeführt, dass dieser Begriff aus dem gleichen Sprachfeld wie der des Mythos kommt, der „sprechen, reden“ bezeichnet. Platon hatte ihn allerdings insofern zum Begriff Mythos abgegrenzt, als er mit Logos den Diskurstyp bezeichnete, der in der Lage ist, Wahres von Falschem (durch Erkenntnis der intelligiblen Formen) zu trennen. Nun könnte man einwenden, dass, wenn ich diese platonische Unterscheidung wieder als Unterscheidungsmerkmal einführe, man auch wieder von der Naturwissenschaft als Sammelbegriff all dieser Praktiken sprechen könnte. Ich tue das jedoch aus dem Grund nicht, da ich anhand Kuhns gezeigt habe, dass sich keine objektiven, außerhalb der Paradigmen stehenden Kriterien finden lassen, wie zwischen wahr und falsch unterschieden werden soll und ob diese Unterscheidung überhaupt möglich ist. Da uns diese übergeordneten Kriterien fehlen, sind wir gezwungen im Plural zu sprechen, um der Vielzahl von Konzepten gerecht zu werden, die sich selbst einen solchen Anspruch setzen.

Kuhn geht in seiner Analyse sogar noch weiter. Aus Sicht des Wissenschaftshistorikers, der die Standpunkte früherer Wissenschaften untersucht, „könnte sich ihm der Gedanke aufdrängen, dass bei einem Paradigmawechsel die Welt sich ebenfalls verändert“. (Kuhn, 1967, S.123) So sind Paradigmen nicht nur konstitutiv für die Wissenschaft, sondern für die Natur selbst. (Kuhn, 1967, S.122) Kuhn schreibt: „Soweit ihre (die der Wissenschaftler – JR) einzige Beziehung zu dieser Welt in dem besteht, was sie sehen und tun, können wir wohl sagen, dass die Wissenschaftler nach einer Revolution mit einer anderen Welt zu tun haben“. (Kuhn, 1967, S.123) Kuhn geht davon aus, dass Wissenschaftler innerhalb verschiedener Paradigmen in verschiedenen Welten arbeiten: „Da sie in verschiedenen Welten arbeiten, sehen die beiden Gruppen von Wissenschaftlern verschiedene Dinge, wenn sie vom gleichen Punkt aus in die gleiche Richtung schauen“. (Kuhn, 1967, S.161) Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich die Frage diskutieren, ob sie tatsächlich vom gleichen Punkt in die gleiche Richtung schauen. Hier soll jedoch das Konzept verschiedener Welten genügen. Die Annahme verschiedener Welten ist recht alt. Reinwald schreibt dazu: „Die Vielheit der Welten, wie sie Thales, Heraklit, und Anaximander noch vertreten haben, ist konkret die Vielheit der griechischen Stämme (…). Bei Demokrit (…) wird die Vorstellung einer Vielheit der Welten zur Gefährdung der Idee des Kosmos“. (Reinwald, 1991, S.300) Auch Platons und Aristoteles` Streben nach einer einheitlichen Konzeption des Kosmos sieht Reinwald vor allem vor dem Hintergrund der Hegemonieansprüche Athens. Im Spätmittelalter wiederum war Ockhams Theorie einer Pluralität möglicher Welten ein Angriff auf die absolute zentralistische Macht der katholischen Kirche. So sieht Reinwald die Wechselseitigkeit philosophischer Aussagen und konkreter gesellschaftlicher Erfahrung bestätigt. (Reinwald, 1991, S.300) Offensichtlich ist schon die Formulierung eines Paradigmas unter anderem von (machtpolitischen) Interessen geleitet. Der Aspekt verschiedener Welten und der Versuch, diese Pluralität durch die Postulierung einer einzigen, und damit zumeist absoluten Welt bzw. eines absoluten Kosmos oder eines absoluten Machtanspruches zu vereinheitlichen, wird uns noch im zweiten Teil dieser Arbeit beschäftigen. Dass sich der Blick der Wissenschaftler unter dem Einfluss verschiedener Paradigmen ändert, führt Kuhn im folgenden seiner Argumentation anhand von Gestalt- und Wahrnehmungsexperimenten aus. (Kuhn, 1967, S.124) Dazu wirft er die Fragen auf, ob sinnliche Erfahrung fixierbar und neutral ist und ob Theorien einfache menschliche Interpretationen gegebener Daten sind. Er beschreibt das Dilemma folgendermaßen: „Der erkenntnistheoretische Standpunkt, der die westliche Philosophie während dreier Jahrhunderte so oft geleitet hat, verlangt ein sofortiges und eindeutiges Ja (auf diese Frage –JR)! In Ermangelung einer ausgereiften Alternative halte ich es für unmöglich, diesen Standpunkt völlig aufzugeben. Und doch, er fungiert nicht mehr wirksam, und die Versuche, ihn durch die Einführung einer neutralen Beobachtungssprache wieder dazu zu bringen, erscheinen mir hoffnungslos“. (Kuhn, 1967, S.137f) Diese Hoffnungslosigkeit scheint in der Tat berechtigt, und nach dem Gesagten kann auch schon ein möglicher Grund dafür angegeben werden: Die Einführung einer neutralen Beobachtungssprache würde einerseits nur ein weiterer Versuch sein, die Pluralität der Welten hegemonial zu vereinheitlichen. Andererseits soll mit dieser neutralen Begriffssprache ein Konzept stabilisiert und wieder funktionstüchtig gemacht werden, das die sinnliche Erfahrung gegebener Daten als fixierbar und neutral postuliert. Mit Kuhns Terminologie könnte man jedoch sagen, dass sich die Anomalien unter diesem Paradigma so gehäuft haben, dass ein Weiter-so in dieser Richtung nur noch als frommer Wunsch erscheint. Mit den Aktor-Netzwerk Theorien werde ich stattdessen eine mögliche Alternative aufzeigen, die es uns ermöglicht diesen Standpunkt aufzugeben.