Naturwissenschaft und Mythos (VI)

/

Die andere Passage der Interpretation der Odyssee behandelt Kirke: Kirke verführt Männer, die sich daraufhin in Tiergestalt bei ihr tummeln müssen. Wer sich auf Kirkes Lockungen einlässt und seinen Trieben folgt, verliert damit seine Autonomie als Subjekt. Die Tiere stehen bei Kirke für willenlose Objekte. Wer seine Triebe nicht zu unterdrücken weiß, verfällt dem Naturzwang. Dieser Logik folgend, erscheint auch der eigene Körper als Natur. Er muss einerseits beherrscht und geformt werden, um den an ihn gerichteten Ansprüchen zu genügen, andererseits wird er als verbotenes, verdinglichtes und entfremdetes Objekt begehrt.[18] Erst durch die instrumentelle naturbeherrschende Vernunft erscheint auch der Körper als beherrsch- und besitzbar. Der Schlag des Helden an die Brust wird als Geste des Triumphes gedeutet, mit dem ein Sieg auch immer als Sieg über sich selbst entlarvt wird.[19]

Herrschaftsbeziehungen sind Horkheimer und Adorno zufolge also überall dort am Werk, wo sich das Subjekt zu behaupten versucht: der äußeren Natur, dem eigenen Körper und Triebstrukturen und anderen Menschen gegenüber. „Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen.“[20] Aufklärung vollbringt zwar die Befreiung des Menschen aus einer von kausalen Zwängen reglementierten Natur, dies kann aber nur geschehen, wenn sich die Menschen von dem entfremden, worüber sie Herr-schaft ausüben. So verstanden ist das Subjekt als Individuum kein Faktum. Vielmehr muss es rational konstruiert werden. Diese Konstruktion der eigenen und der gesellschaftlichen Identität kann nur über rationale Grenzziehungen bewerkstelligt werden, die klar zwischen Innen und Außen, Geist und Körper, Gesellschaft und Natur unterscheiden, wobei das jeweils Andere verloren geht. Es steht dem Subjekt nur noch als fremdes Objekt gegenüber. Diese Trennung sehen Horkheimer und Adorno schon im Ritual und Opfer des Mythos angelegt: „Alle menschlichen Opferhandlungen, planmäßig betrieben, betrügen den Gott, dem sie gelten: sie unterstellen ihn dem Primat der menschlichen Zwecke, lösen seine Macht auf, und der Betrug an ihm geht bruchlos über in den, welchen die ungläubigen Priester an der gläubigen Gemeinde vollführen“.[21]

Dieses zweckgerichtete Handeln des Rituals und des Opfers wird nun nach Horkheimer und Adorno innerhalb der Aufklärung radikalisiert. Alles, auch das Unbekannte, soll seinen festen Platz im rationalisierten System erhalten. So integriert die Mathematik das Unbekannte als Unbekannte in ihren Gleichungen. Damit wird auch das erfasst, was nicht zu erfassen ist. Das Regelsystem der Aufklärung integriert alle Unbekannten, die nur noch auf ihre Besetzung mit Werten warten und damit eine Illusion von Sicherheit erzeugen.[22] In diesem positivistischen Reflex sehen Horkheimer und Adorno die Gefahr, dass der dialektische Prozess, der Erkenntnis über die Arbeit an den Begriffen ermöglicht, zugunsten einer Weltsicht geopfert wird, in der Erkenntnis allein das Sichten des Vorhandenen beinhaltet. Ein solches verabsolutierendes System, das alles in sich integriert, folgt aber der Logik des Mythos, wie er von Horkheimer und Adorno verstanden wurde. So, wie der Mythos ein totalitäres System darstellt, das nur die Unterwerfung unter seine Regeln kennt, arbeitet auch die Aufklärung, die neben den rational-logischen Urteilen wahr und falsch kein Drittes zulässt.[23]

Ob es aus dieser düsteren Dialektik einen Ausweg gibt, wird von den Autoren nur vage angedeutet. Doch die Aufklärung der Aufklärung, die verlorengegangene Reflexion auf sie selbst, wie sie von Horkheimer und Adorno dialektisch vorgeführt wurde, könnte einen Weg weisen: „Aufklärung ist mehr als Aufklärung, Natur, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird. In der Selbsterkenntnis des Geistes als mit sich entzweiter Natur ruft wie in der Vorzeit Natur sich selber an (…)“.[24] Wenn es also gerade dem rationalen Subjekt gelingt, sich dessen zu erinnern, was es von sich ausgegrenzt hat, ist Aufklärung der Herrschaft diametral entgegengesetzt.[25] Das Subjekt muss sich der Natur erinnern und seine Beziehung zu ihr ändern und zwar sowohl zu seiner eigenen Natur als auch zur äußeren Natur.

Wie dies auszusehen hat oder bewerkstelligt werden soll, wird nicht gesagt und soll auch nicht gesagt werden. Die Skepsis gegen allgemeingültige Rezepte war den Autoren zu groß, um solches auch nur zu versuchen. Schließlich hatten Horkheimer und Adorno ja gerade die Totalität als Risiko ausgemacht, die zwar ursprünglich im Mythos angelegt war, aber auch in der Aufklärung ihren Platz hat. Dass diese ursprüngliche Verortung der Totalität im Mythos angezweifelt werden muss (da es zum einen den Mythos nicht gibt und zum anderen auch Mythen einem kritischen, wenn auch kollektiven Korrektiv ausgesetzt waren, innerhalb dessen es möglich ist, sich der Natur, als das von sich ausgegrenzte, zu erinnern), habe ich in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt. In diesem Zusammenhang habe ich ange-zweifelt, dass Totalität tatsächlich immanent aus dem Mythos oder einem (inneren und äußeren) Naturzusammenhang abgeleitet werden kann, sondern dass Totalität immer dann entsteht, wenn Mythen und Naturwissenschaften als unterschiedliche lebensweltliche Praktiken absolute Ansprüche für ihre jeweiligen Weltdeutungskon-zepte erheben, wie es in beiden Bereichen vorkommen kann. Ist das der Fall, reicht es unter Umständen auch nicht, sich der Natur bloß zu erinnern. Vielmehr müsste eine Praxis jenseits instrumenteller Vernunft gesucht werden, die die Kluft zwischen Subjekt und Objekt reflektierend aber nicht zwangsläufig kontrollierend, überbrückt, die mit der Konstitution des Subjekts (und damit natürlich auch des Objekts) einhergeht. Diese Praxis muss, wenn sie weder emphatisch noch instrumentell sein soll, eine kommunikative Praxis sein, wie es in dieser Arbeit schon angeklungen ist. Denn nur Kommunikation als polydirektionaler Austausch gegenüber einer mono-direktionalen Aneignung kann zwischen Selbst und Anderen (nicht Anderem) vermitteln. Wie und ob sich jedoch mit der Natur kommunizieren lässt, die in dualistischer Tradition als Objektbereich bestimmt ist, ist Inhalt des zweiten Hauptteils dieser Arbeit. Dort wird auch ein weiteres Mal nach den Grundbegrifflichkeiten zu fragen sein. Denn so differenziert und tiefsinnig die Analyse der Dialektik der Aufklärung in ihrer Ausführung auch ist, so kämpft sie sich doch unablässig an der Begriffssetzung ab, die ihr zugrunde liegt.


 

  • [1] Adorno, 1986a, S.132
  • [2] Adorno, 1986b, S.57
  • [3] Horkheimer und Adorno, 1988, S.6
  • [4] Jamme, 1991b, S.99. Gemeint ist damit vor allem die Olivenbaumstelle: Homer, 1957, Odyssee XXIII, 183.
  • [5] Horkheimer und Adorno, 1988, S.9
  • [6] Horkheimer und Adorno, 1988, S.10
  • [7] Horkheimer und Adorno, 1988, S.12
  • [8] Horkheimer und Adorno, 1988, S.15
  • [9] Horkheimer und Adorno, 1988, S.195
  • [10] Horkheimer und Adorno, 1988, S.6
  • [11] Homer, 1957, Odyssee, XIII, 154-200
  • [12] Horkheimer und Adorno, 1988, S.40
  • [13] Horkheimer und Adorno, 1988, S.4
  • [14] Horkheimer und Adorno, 1988, S.41
  • [15] Horkheimer und Adorno, 1988, S.43
  • [16] Horkheimer und Adorno, 1988, S.41f
  • [17] Horkheimer und Adorno, 1988, S.40
  • [18] Horkheimer und Adorno, 1988, S.247
  • [19] Horkheimer und Adorno, 1988, S.54f
  • [20] Horkheimer und Adorno, 1988, S.15
  • [21] Horkheimer und Adorno, 1988, S.57
  • [22] Horkheimer und Adorno, 1988, S.31
  • [23] Horkheimer und Adorno, 1988, S.33f
  • [24] Horkheimer und Adorno, 1988, S.46
  • [25] Horkheimer und Adorno, 1988, S.47