Doch nicht nur die Reinigungspraxis der ersten großen Trennung führt zu einer paradoxen Häufung der Hybriden, zu Übersetzungen zwischen den Bereichen, die eigentlich getrennt werden sollten. Auch innerhalb der zweiten großen Trennung zwischen »uns« und »denen«, zwischen Abendland und den anderen Kulturen, zwischen unserer aufgeklärten, naturwissenschaftlichen Zivilisation und den mythischen, ideologischen und religiösen Kulturen führt gerade der Versuch, diese Trennung möglichst plausibel und klar definiert zu gestalten, zu immer mehr Übersetzungen und damit hybriden Weltbezügen: Broker, die sich abends im Zendojo entspannen, Muslime, die Ingenieurswissenschaften in Hamburg studieren, Geisteswissenschaftler, die heidnische Feste wiederbeleben, Medizinschränke, in denen sich neben Paracetamol und Aspirin ayurvedische Rezepturen tummeln, Schwitzhüttenseminare kanadischer Schamanen in Münchner Vororten, indische Kleinbauern als Demonstranten bei internationalen WTO-Verhandlungen, Mangas in Bahnhofsbuchläden deutscher Kleinstädte, Fengshuiberater in den Büros Frankfurter Großbanken, chinesische Astrologie in den Hochglanzillustrierten deutscher Ange-stellter und Arbeiter, Hollywoodstars, die Politiker werden etc. sind Beispiele dafür, wie sich Kulturen und Subkulturen, Religionen und politische Überzeugungen als Weltbezüge überschneiden und überlappen und das in einer globalen Gesellschaft, die sich eigentlich auf die Aufklärung und damit die eindeutige Trennung von modernen und vormodernen Weltbezügen beruft. Wohin wir heute blicken, stellen wir fest, dass sich auf individueller Ebene, auf der Ebene von sozialen Gruppen und der Gesellschaft als ganzer ein immer komplexeres Netz und eine immer stärkere Vermischung von Weltbezügen etabliert, in dem wissenschaftliche Rationalität und technische Fähigkeiten mit politischen Überzeugungen, religiösem und esoterischem Glauben, sowie traditionellen und aktuellen mythischen Geschichten auf vielfältigste Weise miteinander verbunden werden.
Je mehr uns der Zusammenhang zwischen der Reinigung, also der dualis-tischen Trennung, die wir versuchen aufrechtzuerhalten, und der Übersetzung, also der immer stärkeren Verknüpfung aller Bereiche auffällt, desto mehr müssen wir feststellen, so Latour, dass wir niemals wirklich modern gewesen sind, denn die Moderne zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwar beide Praktiken ausführt aber leugnet, dass sie dies tut. Modern sein können wir nach Latour nur, wenn wir weiterhin von der Teilung der Welt in Subjekte und Objekte überzeugt sind und Wissenschaft und Politik mit dieser Überzeugung betreiben, auch wenn dadurch zwangsläufig immer mehr hybride Verbindungen geschaffen werden, vor denen wir allerdings die Augen verschließen.[9] Unser Blick fällt nach Latour daher mehr und mehr auf die zunehmenden Hybriden, die die Kluft zwischen Natur und Gesellschaft (sowie zwischen »uns« und »denen«) füllen, und stellen damit die Schwierigkeiten der Aufrechterhaltung der Reinigungspraxis sowie das Paradox zwischen Reinigung und Übersetzung fest.
Der erste Teil dieser Arbeit hat in zunehmenden Maße diese Hybridität der Weltbezüge in den Blick gerückt ohne dies explizit zu benennen. Versuchten ethnologische Mythosforschung und Naturwissenschaftstheorie in moderner aufgeklärter Manier »uns« naturwissenschaftlich-rational zu konzipieren, so mussten alle anderen a- oder irrational, mythisch, verblendet erscheinen. Selbst bei Lévi-Strauss habe ich gezeigt, dass sein Versuch das wilde Denken mit dem modernen Denken auf die gleiche Stufe zu stellen, nur dadurch vollbracht werden konnte, dass Lévi-Strauss versuchte »unser« Denken in »ihrem« Denken wiederzufinden und es damit zu vereinnahmen. Auch er konnte sich nicht vorstellen, diese Gleichheit durch die Anerkennung eines anderen Denkens zu erreichen. Das wilde Denken war nur deshalb gleich gut, weil es im Grunde schon unser Denken war! Kurt Hübner dagegen, der redlich versucht hat, Mythos und Naturwissenschaft in ihrer Verschiedenheit auf gleicher Stufe zu vergleichen, hat sich, vor allem in Bezug auf Geschichtlichkeit und Fortschritt, in Paradoxe verwickelt, die schon in den Begriffen von Mythos und Naturwissenschaft angelegt sind. Denn es ist gerade konstitutiver Teil der Bedeutung dieser Begriffe, nicht auf gleicher Stufe vergleichbar zu sein.
Die Frage nach Funktionen und Risiken wurde in der abendländischen Tradition bisher eng mit den (geleugneten) „Großen Trennungen“ verknüpft. Je stärker wir allerdings gerade auch ontologische Prämissen hinterfragen und die Vermengungen von Funktionen und Risiken in Naturwissenschaft und Mythos betrachten, desto offensichtlicher werden auch hier die vielfältigen Verknüpfungen zwischen Riten, Institutionen, Glauben, Erkenntnismethoden und Handlungsanwei-sungen. Der Krieg gegen den Terrorismus, der protestantische und der islamistische Fundamentalismus, Independence Day, das Kopftuch, das national missile defence Vorhaben der Bush Administration, das amerikanische Wahlsystem und der Ausgang der Bundestagswahlen in Deutschland sind ebenso miteinander verquickt, wie Quetzalcoatel, lebend herausgeschnittene Herzen Gefangener, Pyramidenbau, Mais-monokulturen, Goldschmiedekunst, Ballspiele und Sonnenpriester. Suchen wir tatsächlich nach Funktionen und Risiken, dann müssen wir sie im Zusammenspiel dieser Netze suchen. Wir können nicht mehr darauf hoffen, dass es mit der modernen Reinigungsarbeit getan ist, nach der wir säuberlich trennen in Natur und Gesellschaft, Wahrheit und Glauben, archaisch und zivilisiert und meinen, damit hätten wir schon Funktionen und Risiken ausreichend bezeichnet.
Der Begriff Hybrid selbst ist natürlich problematisch. Hybrid kann etwas nur sein, wenn man es nach wie vor unter dem Gesichtspunkt der Trennung betrachtet. Das heißt, nur wenn wir erwarten und verlangen, dass etwas entweder Natur oder Gesellschaft, Mythos oder Naturwissenschaft ist, dann müssen uns all die Dinge, die dieser Trennung nicht folgen, hybrid erscheinen. Machten wir diese Trennung von Anfang an jedoch nicht, hätten wir es auch nicht mit Hybriden zu tun, sondern mit einer Vielfalt von Entitäten, die sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungleich mit- und untereinander teilen. Latour und auch Haraway sprechen daher von Akteuren und Aktanten. Diese Begriffe finden sich bei beiden Autoren in verschie-denen Kontexten, um menschliche und nichtmenschliche Einheiten zu beschreiben, die eine spezifische eigene Aktivität besitzen. In Die Hoffnung der Pandora hebt Latour hervor, dass er den Begriff Aktant bei nichtmenschlichen Wesen verwendet, da der Begriff Akteur oft mit Menschen assoziiert werde.[10] Trotz dieses Einwands verwende ich im Folgenden einheitlich den Begriff Akteur, um menschliche und nichtmenschliche Wesen zu bezeichnen. Er ersetzt damit die Begriffe Subjekt und Objekt und führt so gleichermaßen zu einer Vereinheitlichung (da alles Akteur ist) und gleichzeitig zu einer Pluralisierung (da jeder Akteur verschieden ist). Während bisher Subjekte durch Aktivität, Autonomie und Geist, Objekte dagegen durch Passivität, Kausalität und Materie ausgezeichnet waren, besitzen Akteure diese Attribute ebenfalls, doch in unterschiedlichsten Verteilungen und Graden. In Wir sind nie modern gewesen schlug Latour noch vor, statt von Objekten von Quasi-Objekten zu sprechen: „(…) sie nehmen weder die für sie von der (modernen – JR) Verfassung vorgesehene Position von Dingen ein, noch die von Subjekten. Sie lassen sich auch unmöglich alle in die Mittelposition hineinzwängen, so als wären sie lediglich eine Mischung von Naturding und sozialem Symbol“.[11] Der Begriff Quasi-Objekt oder wahlweise Quasi-Subjekt hat jedoch das gleiche Problem wie der Begriff Hybrid. Wir wären dann auch gezwungen, die „hybriden“ Weltbezüge analog Quasi-Mythen oder Quasi-Naturwissenschaften zu nennen. Das macht alles nur noch konfuser. Die mangelnde Eleganz dieser Begriffe besteht aber nicht nur in der holprigen Wortverbindung, sondern vor allem darin, dass wir weiterhin auf die Subjekt-Objekt Trennung rekurrieren, obwohl wir eigentlich zum Ausdruck bringen wollen, dass wir „quasi“ etwas anderes meinen. Wir würden das Paradox der Moderne in eine neue Taxonomie hinüberretten, die wir brauchen, wenn wir nach Alternativen zu den abendländischen Dualismen suchen. Akteure dagegen besitzen eine eigene „agency“, also eine spezifische Wirksamkeit. Latour schreibt: „Akteur ist alles, was einen anderen in einem Versuch verändert; von Akteuren lässt sich nur sagen, dass sie handeln (…)“.[12] Mit dem Begriff Akteur ist daher ein Begriff gefunden, der uns dabei helfen wird, die tatsächlichen Funktionen und Risiken von Weltbezügen ausfindig zu machen. Bisher reichte es, etwas als subjektiv zu identifizieren, um damit auf Verblendung, Irrationalität und Glauben, aber auch auf Autonomie hinzuweisen. Gleichermaßen ließ sich Rationalität und Wissenschaftlich-keit aber auch Instrumentalisierung dadurch ausmachen, dass man es als objektiv identifizierte. Riskant war vor allem alles, was unerlaubt die Grenzen der Trennung zwischen Natur und Gesellschaft, Politik und Wissenschaft nicht einhielt, sondern diese vermischte. Agieren wir statt dessen mit dem Begriff Akteur, sind wir gezwungen, mit diesem schwarzer-Peter-zuschieben aufzuhören und können uns direkt den Weltbezügen als Modus der Vernetzung von Akteuren zuwenden, in denen sich funktionale und riskante Praktiken etablieren. Der Name Aktor-Netzwerk Theorien für Theorien wie die von Latour und Haraway, rührt aus diesem, im Kontrast zu dualistischen Theorien, verlagertem Interesse. Da für Akteure und Netz-werke gleichermaßen die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft nicht konstitutiv ist, sind diese Aktor-Netzwerk Theorien auch weder Sozialtheorien noch Natur- bzw. Wissenschaftstheorien, wie ihnen hin- und wider vorgehalten wird.[13] Sie betrachten vielmehr gleichermaßen materielle und ideelle Aspekte in ihrer jeweiligen Ausprä-gungen wie ich weiter unten verdeutlichen werde. Bei Hübner habe ich die Frage aufgeworfen, ob sich Wissenschaft tatsächlich ausschließlich als zwischen Subjekt und Objekt differenzierende Praxis im Gegensatz zum Mythos beschreiben lässt. Mit den Aktor-Netzwerk Theorien wird dieser Überzeugung ein Alternativmodell entge-gengesetzt. Naturwissenschaftliche Praxis ist keineswegs auf Subjekte und Objekte angewiesen, unter Umständen war sie das auch noch nie, wie ich mit Latour im Folgenden zeigen werde.