Netzwerke und Gestaltenwandler

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Dekonstruktion und Beliebigkeit

Mr. Johns kontert das Argument der Cybernetics Company, sein Prothesenkörper sei nicht mehr er selber, folgendermaßen: Ein Gemüsehändler, bei dem man über Jahre eingekauft habe, ohne zu bezahlen, könne auch nicht Anspruch auf den Körper des Schuldners erheben, obwohl wissenschaftlich erwiesen sei, dass der Körper über die Zeit seine gesamten Zellen erneuert und zwar aus dem Material des verzehrten und ungezahlten Gemüses. Damit zeigt Mr. Johns, dass es nicht so einfach ist, Subjekt und Objekt, den erlebten natürlichen Leib von dem gesellschaftlich konstruierten Körper zu trennen, denn die Schnittstellen zwischen unserem Körper und unserer Umwelt sowie die resultierenden vermittelten und unvermittelten leiblichen Erfahrungen sind vielfältig. Es reicht nicht, nach dem Transplantat oder der gentechnisch veränderten Zelle oder einer gesellschaftlichen Norm allein zu fragen, um äußere Einflüsse auf ein inneres autonomes Selbst, gar ein Individuum (lat. das Unteilbare) offen zu legen. Berthe-Corti  beschreibt in ihrem Beitrag Der biotechnologische Körper (Berthe-Corti 2002), an welchen Schnittstellen der Körper Eingriffen, Durchgängen und Veränderungen ausgesetzt ist. Dabei spricht sie davon, dass wir bereits unsere biologische Integrität verlassen haben und zu biotechnologischen Konstrukten geworden sind. Sie erkundet wie z.B. über Nahrungsmittel mit Zusatzstoffen, Pharmaka und Gentechnologie schon seit Menschengedenken, doch vor allem heutzutage, kulturell und technisch variierte und produzierte Stoffe Einfluss auf unseren Körper nehmen und versuchen, diesen nach unseren Wünschen zu alterieren, sei es, um ihn gesünder zu ernähren, ihn zu verschönern, zu verjüngen, seine Krankheiten zu bekämpfen, Wohlbefinden herzustellen oder Fehlbildungen zu beseitigen, sei es um auf seine internen Funktionen chemisch oder technisch einzuwirken oder sein äußerliches Erscheinungsbild nach unseren Vorstellungen anzupassen. Die Frage, wo denn nun die Grenze des Eingriffs in unseren „natürlichen“ Körper liegt, beim Essen von hochgezüchtetem Gemüse etwa (eine vergleichsweise alte Kulturtechnik), bei der Einnahme von biotechnologischen Pharmaka, beim Herzschrittmacher oder bei gentechnisch erzeugten und außerhalb des Körpers gewachsenen Körperimplantaten erweist sich daher als unlösbar. Berthe-Corti schreibt: „Es gibt keinen neutralen oder objektiven Standpunkt, an dem die Grenze eines Eingriffs gemessen werden könnte. Einer der Gründe mag sein, dass es keinen neutralen Standpunkt gibt, um die ‚Normalität’ von Körperzuständen zu beurteilen. Das Resultat einer generellen oder allgemeingültigen Beurteilung kann dem Einzelfall nicht gerecht werden und wird zwangsläufig die Gefühle der Betroffenen verletzen“ (Berthe-Corti 2002, S. 177).

Aber auch, so sollte man hinzufügen, die Grenzen nach außen waren schon immer und werden immer diffuser. Brandings, Tatoos und Piercing sind verletzende Eingriffe an der Oberfläche des Körpers, in der ökologischen Textilindustrie spricht man von Kleidern als der zweiten, in der Baubiologie von Häusern als der dritten Haut des Menschen, ganz zu schweigen von den Marken und Statussymbolen mit denen wir uns (unsere Körper) umgeben. Der funktionelle Nutzen (von Kleidung und Behausung) spielt dabei eine immer geringere Rolle. Vielmehr wollen wir unsere Identität schärfer zeichnen. Unsere sozialen Bindungen, unsere Berufe, unsere Hobbys prägen nicht nur unser soziales Erscheinungsbild, sondern beeinflussen als unserem erweiterten Erfahrungsraum unsere Identität. Die Grenzen unserer Identität nach außen sind also nicht durch den Leib gegeben, sondern vermischen sich und bilden Grauzonen gegenseitiger Beeinflussung mit den sozialen, kulturellen und technischen Bereichen unserer Umwelten. Aber auch im Innen verschwimmen die Grenzen, also dort, wo wir in dualistischer Manier einen Rückzug suchen, wenn es im Außenbereich zu chaotisch wird: beim Geist und bei der Psyche. In einem Beitrag des Deutschlandfunks vom 13.8.2003 wird z.B. berichtet, wie über ein Brain-Computer-Interface durch Gedanken ein Mauszeiger auf dem Bildschirm bewegt werden kann (Smiljanic 2003). Ein technisches Hindernis, auch Prothesen mit Gedanken zu steuern, so die Forscher, liegt ausschließlich in der Übertragungsrate des Interfaces, ein Problem also, dass bei der Geschwindigkeit der technischen Entwicklung von Mikrochips ein rein zeitliches ist. Drogen, die auf Wahrnehmung, Bewusstsein und Psyche Einfluss nehmen, Multimedia und die angestrebte „virtual reality“ von Erlebniswelten zur Unterhaltung und Computersimulationen ermöglichen leibliche Erlebniswelten außerhalb unseres „natürlichen Leibes“ oder zumindest ungebunden von ihm. Der Verweis auf den Einfluss von außen kommender chemischer Substanzen oder technischer Hilfsmittel, um real von virtuell zu unterscheiden, greift hier nicht, denn wer sagt denn, unter welchem Einfluss körpereigener Hormone wir eine „natürliche Wirklichkeit“ erleben? Beim Joggen? Unter Schock? Während der Liebe oder bei Depressionen? Und leben wir Brillen- und Hörgeräteträger schon in einer durch technische Hilfsmittel vermittelten virtuellen Realität oder kann man diese Wahrnehmungen noch als „reale Realität“ bezeichnen? Gugutzer würde einwenden, zumindest unser Betroffensein bliebe universell, aber was von uns ist denn eigentlich betroffen, nachdem wir die chemische, technische, soziale und psychische Diffusionsoffenheit unseres Leibes und nicht nur des Körpers festgestellt haben? An welchem Punkt verorten wir das betroffene Selbst, wenn wir feststellen, dass Betroffensein unter Umständen auch leiblose oder fremdleibliche Zustände kennt?

Berthe-Corti fordert eine Debatte darüber, wie weit der Ersatz (hier durch kulturelle, technische Eingriffe) gehen kann und ob bzw. worüber eine Grenze auf dem Weg zum Hybridwesen aus Technik und Mensch definiert werden kann (Berthe-Corti 2002, S. 175). Doch diese Frage ist nur dann von Bedeutung, wenn man eine Trennung in Subjekte und Objekte aufrecht erhalten möchte, um die Verfassung der Moderne durch die Reinigung von Natur und Kultur weiterhin zu konstituieren (vgl. Latour 1998, S. 20 u. 22ff). Wenn wir dagegen beginnen, unsere Hybridhaftigkeit anzuerkennen, stellt sich eher die Frage: Wie gelingt es uns, die vielfältigen Standpunkte hybrider Identitäten zu vermitteln und in einer demokratischen Ordnung zu organisieren, da, wie Berthe-Corti sagt, eine generelle oder allgemeingültige Beurteilung dem Einzelfall nicht gerecht werden kann?

Wir wissen aus anderen Diskursen (z.B. um sex und gender), warum wir immer wieder dem Reflex verfallen, klare Grenzen ziehen zu wollen und die Dinge und Phänomene eindeutig der einen oder anderen Seite zuschlagen müssen: Klare Kategorien bedeuten Sicherheit, Halt und Orientierung. Sie konstituieren anhand von Kriterienkatalogen starke Subjektpositionen, um diese daraufhin in politischen oft hegemonialen Diskursen zu repräsentieren (Butler 1991, S.16) Dabei ist es konzeptionell völlig unerheblich, ob es sich um die Subjektposition „wir Arbeiter“, „wir Intellektuelle“, „wir Frauen“, „wir Deutsche“, „unsere Familie“, „wir Menschen“, „Ich“ oder eine beliebige andere handelt. Identität bedeutet: Gleichheit, Übereinstimmung. Im mindesten, so unsere Hoffnung, mit uns selbst, unserem Körper, unserer Geschichte, unserer Funktion oder Rolle, aber auch mit größeren Ensembles, denen wir uns zugehörig fühlen wollen, um unserer Existenz mehr Bedeutung zuschreiben zu können. Solche Subjektpositionen sind in vielen Fällen wichtig, vor allem dann, wenn es darum geht, Rechte gegenüber Majoritäten einzuklagen. Nichtsdestotrotz arbeiten sie zwangsläufig ausschließend und werden in dem Moment ein Problem, in dem sie die Rechte, die sie für sich selbst einklagen, anderen, die die Kriterien nicht erfüllen, vorenthalten. Die Kritik an feministischen Positionen durch z.B. Transsexuelle mahnen dies immer wieder an (vgl. polymorph 2002).

In dem Moment, in dem wir uns die Frage stellen, in welchem Verhältnis Körper, Leib und Identität zueinander stehen, beginnen wir daher mit einem Subjektivierungsprozess, der andererseits Gegenstand unserer Frage sein sollte. Unser Wunsch ist es, wenigstens in unserem eigenen leiblichen Empfinden, in unserer körperlichen Realität einen Haken zu finden, an dem wir unser Ich sichern können. Nur dann, so glauben wir, können wir uns Handlungsfreiheit und Autonomie erhalten und sichern. Schon die Frage nach der Konstitution von Identität schließt letztlich aus, dass Identität möglicherweise keine ist, unter Umständen nicht möglich sein kann. Mit Butler könnten wir daher fragen: „Inwiefern stellt ‚Identität’ eher ein normatives Ideal als ein deskriptives Merkmal der Erfahrung dar? […] Mit anderen Worten: ‚Kohärenz’ und ‚Kontinuität’ der ‚Person’ sind keine logischen oder analytischen Merkmale der Persönlichkeit, sondern eher gesellschaftlich instituierte und aufrechterhaltene Normen der Intelligibilität“ (Butler 1991, S.38). Heißt das aber nun, dass wir keinerlei von gesellschaftlichen Kodierungen unabhängiges Wissen über den Zusammenhang von Körper und Identität erlangen können, dass wir „total entortet, entwurzelt, entkörpert“ (Duden 1998, S. 26) sind? Dass Identität eine Illusion ist, aufrechterhalten durch kulturelle Prozess, die außerhalb unserer Autonomie liegen? Barbara Duden wehrt sich ausdrücklich dagegen, dass auf diese Weise „die Frage nach Deiner und meiner Wirklichkeit“ (S. 29) sinnlos werde, dass „wirkliche Personen, solche mit Kopf und Herz“ (S. 30) durch die Auswirkung solcher Theorien annuliert werden. Doch solche Aussagen müssen nach dem oben gesagten wirken, wie ein Verweis auf den „gesunden Menschenverstand“, als das Klammern an positiv besetzte Begriffe, von denen wir hoffen, uns automatische Zustimmung verschaffen zu können. Denn wer wollte schon gegen Wirklichkeit, Kopf, Herz und Verstand argumentieren?

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