Naturwissenschaft und Mythos (IV)

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Dass ontologische Vorentscheidungen spekulativer Art sind, sieht Hübner abermals bewiesen in dem Streit zwischen Einstein und Bohr, in dem es um ein Gedankenexperiment ging, das sich Einstein mit Rosen und Podolsky ausgedacht hatte. Die Frage dabei war, was passieren würde, wenn ein Teilchen, das früher in Wechselwirkung mit einem anderen gestanden hat, gemessen würde. Nach der Heisenbergschen Unschärferelation wäre es nicht möglich, den Ort und den Impuls eines Teilchens gleichzeitig zu messen. Einstein dachte jedoch, durch die experimentelle Ortsbestimmung des einen Teilchens mit Hilfe der Quantenmechanik auch den Ort des anderen Teilchens berechnen zu können, ohne dieses selbst durch die Messung beeinflusst zu haben. Daraus hätte sich ein Widerspruch zwischen Heisenbergscher Unschärferelation und der Quantenmechanik ergeben. Einsteins zugrunde liegende Annahme dabei war, dass Ort und Impuls Eigenschaften des Teilchens sind. Das Teilchen selbst ist ein Objekt, das Eigenschaften gleichsam mit sich herumträgt. Die Substanzen (hier das Teilchen) bestimmen die Relationen zwischen den Substanzen. Bohr deutete die Zusammenhänge jedoch anders. Er ging davon aus, dass die Relationen zwischen den Substanzen die Wirklichkeit ausmachen. Eine Messung als spezielle Relation konstituiert damit die Wirklichkeit erst. Eine solche Sicht führt in dem Gedankenexperiment zwar dazu, dass Quantenmechanik und Unschärferelation nicht im Widerspruch zueinander stehen, aber dass durch die Messung des einen Teilchens auch das andere Teilchen insofern beeinflusst wird, dass sein Ort bzw. Impuls nicht ermittelt werden kann. (Hübner, 1985, S.40ff) Im Zentrum der Bohrschen Ontologie stehen dabei die Begriffe der Komplementarität, der Ganzheit und des Phänomens. Hübner schreibt: „Die physikalische Wirklichkeit ist also für Bohr nur durch die das Messinstrument, das gemessene Objekt und deren Wechselwirkung umfassende „Ganzheit“ gegeben, nur sie konstituiert das „Phänomen“. Die Beziehung aber zwischen „Phänomenen“, die durch einander ausschließende Messapparaturen definiert sind, so dass, wenn das eine bestimmt wird (etwa der Ort eines Teilchens), das andere unbestimmbar bleibt (etwa sein Impuls), nennt er „Komplementarität““. (Hübner, 1985, S.42) Bohr hat sich damit Hübner zufolge an Kierkegaard orientiert, dessen Philosophie konstatiert, dass „die Bestimmung des Subjektes es zum Objekt mache und damit das Subjekt als solches ausschalte, während der Versuch, daraus wieder zum Subjekt zurückzukommen, wieder seine Betrachtung als Objekt unmöglich mache“. (Hübner, 1985, S.44)

Hübner kommt durch seine Überlegungen zu dem Schluss, dass es keine empirische Wahrheit oder Falschheit von Ontologien geben kann und dass den Interpretationen wissenschaftlicher Experimente apriorische Deutungsschemata zugrunde liegen. Damit wird es ebenfalls unmöglich, einen Rechtfertigungsunter-schied zwischen axiomatischen Voraussetzungen der Naturwissenschaft einerseits und den auf dem Numinosen und den Archái aufbauenden Voraussetzungen des Mythos andererseits zu finden. (Hübner, 1985, S.262) Naturwissenschaft und Mythos bedienen sich Hübner zufolge legitimer Formen der Rationalität, beide nutzen systematische Erklärungen und Ordnungen, auch wenn die Inhalte verschieden sind. (Hübner, 1985, S.243) Dabei ist Rationalität durch die Eigenschaften Begrifflichkeit, Begründbarkeit, Folgerichtigkeit, Klarheit und allgemein verbindliche Einsichtigkeit gekennzeichnet. (Hübner, 1985, S.239) Diese Eigenschaften besitzen Hübner zufolge jedoch ebenfalls keine allgemeingültige Definition. Auch sie sind nur dann von Bedeutung, wenn sie in eine Ontologie eingebunden sind. Die Etablierung einer solchen Ontologie und der in ihr enthaltenen Begriffe und Regeln für Begründbarkeit, Folgerichtigkeit, Klarheit und allgemein verbindliche Einsichtigkeit kann daher nur intersubjektiv entstehen. Hübner macht daher verschiedene Formen der Intersubjektivität aus (empirisch, semantisch, logisch operativ und normativ), durch die sich ontologisch spezifische Rationalität etabliert. Dieser Prozess findet sich Hübner zufolge sowohl in der Wissenschaft als auch im Mythos unter verschiedenen Vorzeichen wieder. Da uns die axiomatischen Voraussetzungen der Naturwissenschaft geläufig sind, nicht aber die mythischen Voraussetzungen, versucht Hübner diese zu konkretisieren:

„Da der Mythos die scharfe Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Gegenstand im Sinne der wissenschaftlichen Ontologie nicht kennt, beruht für ihn Erkenntnis auch nicht darauf, dass ein Subjekt in der rein geistigen Innerlichkeit seines Denkens ein außerhalb seiner liegendes Objekt erfasst, sondern er begreift sie als einen Vorgang, in dem die numinose Substanz, die das an ihr teilhabende Objekt durchdringt, in den Erkennenden einfließt und ihn erfüllt. Alles Ideelle ist ja, wie wir gesehen haben, zugleich ein Materielles und umgekehrt; das Vorgestellte ist in gewissem Sinne schon das Wahrgenommene; der Name, die Bezeichnung und das Wirkliche, das „Dingmoment“ und das „Bedeutungsmoment“ werden nicht scharf geschieden.“ (Hübner, 1985, S.265)

Übertragen auf die Frage nach den Funktionen von Mythos und Naturwissenschaft lässt sich also zusammenfassen, dass sowohl der Mythos als auch die Naturwissenschaft Funktionen der Wirklichkeitsbewältigung ausüben, indem sie, auf verschiedenen Subjekt-Objekt Konzepten basierend, Weltbezüge anbieten, die nach bestimmten, diesen Konzepten entsprechenden Mustern, Erfahrungen übersetzen und damit Wissen generieren und kommunizieren, welches natürlich auf Fragestellungen und Inhalte antwortet, die wiederum durch den jeweiligen Weltbezug als relevant erachtet werden.

Allerdings belässt es Hübner leider nicht bei der Gleichstellung von axiomatischen und mythischen Voraussetzungen, sondern dreht den Spieß sogar noch um. Wissenschaftliche Regeln und Gesetze befassen sich qua definitionem mit dem Profanen, die numinose Wirklichkeit der Archái dagegen ist nach Hübner etwas Heiliges und von Gott Mitgeteiltes. Numinose Erfahrungen sind solche, die Gott den Menschen gezeigt hat. (Hübner, 1985, S.265f) Dies mag aus Sicht der im „mythischen Bewusstsein“ lebenden Menschen, so es dieses Bewusstsein denn gibt oder gab, tatsächlich der Fall sein, und daher ist es wert, diese Position den wissenschaftlichen Positionen entgegenzustellen, die die Geschichtlichkeit ihrer eigenen Voraussetzungen nicht anerkennen, sondern sie für etwas Gegebenes halten. Aber Hübner begibt sich damit in zweierlei Hinsicht auf Glatteis. Zum Einen ist nicht ganz klar, ob er diese Sicht nur vergleichend verdeutlicht oder ob er selbst in den mythischen Voraussetzungen etwas Heiliges sieht, dessen Wirklichkeit damit mehr Gewicht zufällt als dem Profanen der Wissenschaft. Wäre dies der Fall, gefährdete er sein mühsam aufgebautes Argument, nach dem kein prinzipieller Unterschied zwischen den ontologischen Voraussetzungen von Naturwissenschaft und Mythos gefunden werden kann. Der Streit, ob Profanes oder Heiliges der Realität unserer Welt eher entspricht, könnte wieder neu entbrennen. Zum Anderen begeht Hübner hier den Kardinalfehler der Mythosforschung, den ich schon angesprochen habe: er glaubt, ein recht genaues Bild vom Empfinden und der Weltbezüge der Menschen abgeben zu können, die in einem „mythischen Bewusstsein“ leben. Diese Interpretationen schriftlicher Überlieferungen von ehemals mündlichen Mythen jedoch, die aus der jeweiligen Situierung der Mythenforscher resultieren und auf Grund derer sie annehmen, wie der „mythische Mensch“ gedacht, gefühlt, erfahren, identifiziert und gewusst hat, sind per se nicht möglich, ebenso, wie es nicht möglich ist zu wissen, ob der Schmerz eines anderen Menschen der gleiche Schmerz ist, den ich selbst empfinde. Viel wahrscheinlicher ist es, dass es genauso viele Variationen ontologischer Voraussetzungen und damit Weltbezüge gibt, wie es Epochen, Kulturen und Völker, ja vielleicht sogar, wie es Menschen gegeben hat. Es besteht ebenso wenig Grund anzunehmen, dass das „mythische Verständnis“ eines mongolischen Ackerbauern, eines nomadisierenden Wüstenreiters oder eines aztekischen Sonnenpriesters irgendetwas gemein hat, wie es wenig Grund gibt anzunehmen, dass die Naturwissenschaft eines Ptolemäus aus dem gleichen Weltverständnis herrührt, wie die eines Einstein. Obwohl diese Pluralität ebenfalls letztlich nicht überprüfbar ist, gibt es einen gewichtigen Grund, zumindest konzeptionell davon auszugehen. Denn eine Theorie, die dies nicht in Betracht zieht, läuft Gefahr, eine unbestimmbare Anzahl ontologischer Grundhaltungen und Weltbezüge zu marginalisieren und somit zu dominieren, unabhängig davon, ob diese Haltungen als wissenschaftlich oder mythisch bezeichnet werden. Eine Theorie jedoch, die eine Pluralität ontologischer Grundhaltungen zulässt, läuft auch dann nicht Gefahr, sollte es tatsächlich nur eine Wirklichkeitsbeschreibung der Welt geben. Pluralistische Theorien folgen damit einer Art Vorsorgeprinzip gegen die Monopolisierung eines einzelnen Weltbezugs und der damit einhergehenden Hierarchisierung von Rationalitätsansprüchen.