Naturwissenschaft und Mythos (VII)

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Naturwissenschaft und Mythos (I) – (Hier findet sich auch der gesamte Text als pdf)

Naturwissenschaft und Mythos (II)

Naturwissenschaft und Mythos (III)

Naturwissenschaft und Mythos (IV)

Naturwissenschaft und Mythos (V)

Naturwissenschaft und Mythos (VI)

II. Welten

 

„Once upon a time, in another, closely related, ethnospecific narrative field called Western philosophy, such entities were thought to be subjects and objects, and they were reputed to be the finest and most stable actors and actants in the Greatest Story Ever Told – the one about modernity and man.” [1]

 

II.1. Einleitung

Ich hoffe, dass Folgendes aufgefallen ist: Ich habe versucht, Funktionen und Risiken von Mythen und Naturwissenschaften aufzuzeigen und habe dabei immer wieder bei verschiedenen Autoren nach Hinweisen gesucht. Eine Reihe von Vorschlägen ist dabei gemacht worden, z.B. Erkenntnisgewinnung, individuelle und kollektive Identifizierung, Etablierung von Werten und Normen, Bewältigung von Angst und Unsicherheit, Aneignung und Beherrschung der Natur durch Technik und Fortschritt. Dabei bin ich jedoch bei jedem Schritt immer wieder auf die Frage des Subjekt-Objekt Dualismus und die damit zusammenhängenden ontologisch motivierten Zuschreibungen gestoßen. Alle Funktionen nehmen in der einen oder anderen Weise Bezug auf diese Trennung. Die Erkenntnisgewinnung richtet sich vom Menschen auf eine objektive Welt, die Techniken der Naturbeherrschung machen uns die Objekte für unsere Zwecke zugänglich. Identität wird hergestellt, indem durch Erzählungen starke Subjektpositionen etabliert werden, die sich gegen das feindliche Andere einer unbeherrschten Natur (zu der auch andere Menschen gehören können – z.B. Barbaren bei den Griechen) abgrenzen usw. Auch die Risiken führen immer wieder auf die grundlegende Trennung der Welt in Subjekte und Objekte zurück. So habe ich versucht zu zeigen, dass die Risiken gerade aus dem Funktionsüberschuss entstehen, sprich, dass, wenn die Grenzziehungen, die Teil der Funktionen sind, zu rigoros umgesetzt werden, Totalitarismus und Absolutismus die Folgen sind. Anscheinend verlief der Weg immer in die andere Richtung als allgemein angenommen. Es ist nicht so, dass es den Mythos und die Naturwissen-schaft gleichsam als Objekte der natürlichen Welt gibt und man dann an ihnen erkennen kann, welche Funktionen sie haben, welche Gefahren sie mit sich bringen, wie sie intern funktionieren etc. Statt dessen scheint es, als läge all unseren Bemühungen dieser Subjekt-Objekt Dualismus in unterschiedlichsten Schattierungen zugrunde und als würden die diesen Polen zugeschriebenen Eigenschaften gleichsam abgepaust auf diejenigen Bereiche, die ihnen (wie Mythos und Naturwissenschaft) zugeordnet werden. Hat man einmal die Welt in eine subjektive Sphäre und eine objektive Sphäre geteilt, dann kann man herangehen und die ausgemachten Gegenstände der Welt diesen Polen zuordnen. Indem wir dies aber tun, nehmen sie den Charakter des jeweiligen Pols an.

Stellen wir uns Folgendes vor: Wir besitzen in unserem Haus zwei Farbeimer. Der eine beinhaltet rote Farbe, der andere grüne. Zudem besitzen wir einen Kasten, in dem unsortiert verschiedene weltbezogene Praktiken und Phänomene der Welt als Gegenstände unterschiedlichster Art enthalten sind. Nun beginnt eines Tages ein Gast, wir nennen ihn der Einfachheit halber Herrn Notalp, eine Geschichte zu erzählen – sagen wir es ruhig: einen Mythos. Es ist eine äußerst spannende Geschichte, wie man sie Kindern erzählt, in der einfache Dinge des Alltags plötzlich zu unbekannten Wesen mit neuen Bedeutungen werden. Die Geschichte des Herrn Notalp handelt davon, wie sich die Welt in zwei Teile teilt. Alle Wesen müssen sich während der Geschichte für die eine oder andere Seite entscheiden und damit einen Teil ihrer Identität ändern, um der neuen geteilten Welt gerecht zu werden. Zur Verdeutlichung wirft Herr Notalp jedes Mal einen Gegenstand aus unserem Kasten in einen der beiden Farbeimer. Den roten nennt er dabei den subjektiven und den grünen den objektiven, wahlweise auch den des Verstandes und den der Natur oder auch den des Himmels und den der Höhle. Herr Notalp erzählt seine Geschichte gekonnt und vermag es, alle Zuhörer in seinen Bann zu ziehen, so dass sich die Nachricht über diesen gelungenen Abend in unserem Hause schnell herumspricht. Fragt uns später jemand, was für eine Geschichte uns denn da erzählt wurde, zeigen wir auf die Gegenstände und verkünden, uns wäre die Geschichte von den roten und den grünen Gegenständen erzählt worden, was natürlich so nicht ganz stimmt, denn die Gegenstände sind ja erst während der Geschichte rot und grün geworden. Tatsächlich waren ursprünglich alle Gegenstände verschieden. Doch für unseren neuen Gast ist die Sache offensichtlich und unter Umständen fühlt er sich sogar inspiriert, sich ebenfalls in einer Geschichte von roten und grünen Gegenständen zu versuchen. Und so entwickeln sich die Geschichten von roten und grünen Gegenständen mit immer neuen Erzählern, die sich von Herrn Notalp inspirieren lassen, zu einer eigenen Erzählgattung, die den klangvollen Namen „Die Liebe zu rot-grün“ erhält. Doch in den Geschichten dieser Gattung fällt sehr schnell kaum noch auf, dass die Gegenstände auch noch andere Eigenschaften haben als rot und grün zu sein, und wenn dies doch auffällt, so wird es meist als Bestätigung dafür herangezogen, warum die einen Gegenstände rot und die anderen grün sind: so sind die grünen nicht nur grün, sondern mehrheitlich aus Holz, dafür sind die roten, die aus Holz sind (bis auf ein oder zwei Ausnahmen) eckig, was schließlich alle roten Gegenstände mehrheitlich sind. Doch einige rot-grün Liebenden sehen das etwas anders und würden gerne einige Gegenstände ummalen oder zumindest mit einigen Tupfern der jeweils anderen Farbe besprenkeln, bei rot und grün bleiben sie jedoch alle. Die Streitereien darüber werden manchmal so laut, dass diejenigen, denen weitere Differenzen aber auch Gemeinsamkeiten der Gegenstände auffallen, gar nicht erst zu Wort kommen. Gelingt ihnen das doch einmal, dann werden sie mit wütenden Worten aus dem Haus gejagt. Sie sind ja schließlich und offensichtlich keine rot-grün Liebenden – soviel Einigkeit muss sein! Ich stelle mir also eine große altertümliche Halle mit marmornen Säulen und vielen Treppenstufen vor, in der sich unsere rot-grün Liebenden mittlerweile versammelt haben und angeregt, wütend, inspiriert, in Gedanken versunken, einzeln und in Gruppen sich über die Art und Weise ergehen, wie die rot-grüne Geschichte am besten zu erzählen sei. Da tritt plötzlich eine Blinde in ihre Mitte. Sie ist intelligent, verständig, aufmerksam und verfügt über eine große Auffassungsgabe. Nur eins kann sie nicht: sie kann keine Farben sehen! Diese Blinde bittet nun die versammelten rot-grün Liebenden ihr ihre Geschichten zu erzählen. Und alle bemühen sich sehr um das Verständnis des Gastes. Man bringt ihr auch den Kasten mit den Gegenständen, damit sie sich selbst von der Wahrheit der Geschichte überzeugen kann. Doch wie wird die Blinde auf die Gegenstände reagieren? Vielleicht befindet sie, dass es sich um eine Sammlung doch recht ähnlicher Gegenstände handelt, vielleicht stellt sie aber auch fest, dass es eckige, runde, harte, weiche, kalte, warme und lauwarme, aus Holz, Metall, Schaumstoff, Papier und Gummi bestehende Gegenstände gibt und beginnt sie nach diesen Eigenschaften zu sortieren. Vielleicht sortiert sie auch zuerst nach einem Kriterium und dann innerhalb der daraus entstandenen Haufen noch einmal nach einem anderen Kriterium. Wir müssen es aber als äußerst unwahrscheinlich ansehen, dass sie einen roten und einen grünen Haufen dabei produziert oder auch nur nachvollziehen kann, warum andere diese Haufen gemacht haben. Ich weiß nicht, wie die Geschichte in der ehrwürdigen Halle weitergeht, aber eine Frage bleibt hängen: Was wäre, wenn wir uns blind machten gegenüber dem Subjekt-Objekt Dualismus?